Autismus - ohne wäre die Normalität gestört

 

 

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Zerrüttetes Vertrauen als Barriere

Im aktuell umfassend geschilderten Fallbericht kommt auch diese Thematik zur Sprache, die wir bereits aus diversen Fällen in der einen oder anderen Weise kennen. Es ist an der Zeit auch diese Problematik in einem eigenen Artikel als existierende Barriere zu umschreiben.

Jeder neue Kontakt eines Autisten z.B. mit einer Behörde ist auch der Beginn eines sich entwickelnden Verhältnisses. Vielleicht zu einzelnen Sachbearbeitern, oft auch eher zu einer ganzen Behörde, deren handelnde Personen stur eine bestimmte für den Autisten nicht zugängliche Standardlinie verfolgen.

Wenn zu Beginn vom Autisten versucht wird, darauf hinzuweisen, welche Faktoren für einen barrierefreien und daraus möglichst einfachen und in der Sache gelingenden Kontakt zu beachten wären, dann sind viele Reaktionen der anderen Seite möglich. Vielleicht wird gewissenhaft darauf eingegangen, der Kontakt zu dieser Stelle gelingt und die Sache kann relativ einfach für beide Seiten erledigt werden. Vielleicht aber, und selten ist das leider bis heute ganz und gar nicht, stellen sich die handelnden Personen auf der anderen Seite quer, übergehen diese Punkte nach Möglichkeit und spulen stur und rechtswidrig weiter ihr Standardvorgehen ab, etc.

Im letzten Fall ergeben sich schon von der Sache her dann entsprechende Probleme, etwas erledigt zu bekommen wird letztlich für beide Seiten teils ganz erheblich schwieriger. Dieser Effekt ist vordergründig offensichtlich. Hintergründig kann sich jedoch wirkend auf Seite des Autisten bei solchen Abläufen auch noch eine weitere zusätzliche und wegen ihrer Hintergründigkeit bisher oft noch wenig beachtete Barriere herausbilden, die für sich genommen in ihren Auswirkungen als ganz und gar nicht unbedeutend eingeordnet zu werden hat.

Aus unserer Erfahrung in der Selbsthilfe beschreiben wir dieses zerrüttete Vertrauensverhältnis hier als etwas, das auf Seite der Autisten meist selektiv im Kontakt zu den jeweiligen Personen oder dieser sich eher einheitlich gebenden Behörde, sonstigen Stelle oder auch zu Wirtschaftsunternehmen aller Art schwere Folgen nach sich ziehen kann, z.B. bis hin zu Angst- und Panikzuständen, die es einem Autisten zusätzlich unmöglich machen sich in Kontaktsituationen mit diesen zu begeben. Die hier beispielhaft genannten Panikzustände sind oft nicht kontrollierbar, ein breiter verständlicher Vergleich könnte zu unüberwindlicher Höhenangst gezogen werden, bei der jemandem sein Körper einfach nicht mehr gehorcht.

Gegenüber Stellen, die aufgrund ihres Gebahrens einen Eindruck geringer Zuverlässigkeit erwecken, die z.B. getroffene Absprachen wahrscheinlich nicht genügend einhalten würden, da sie das Barrierefreiheitsthema dem Anschein nach kaum in der für Autisten erforderlichen Ernsthaftigkeit und Genauigkeit beachten, die schon in ihren Antworten daran scheitern inhaltlich korrekt das aufzugreifen, was für die Herstellung eines barrierefreien Zugangs zu ihnen erforderlich wäre oder die bereits zurückliegend Absprachen tatsächlich nicht gewissenhaft und in erforderlicher Weise einhielten gäbe es zudem die Option rechtlicher Absicherungen durch vertraglich festgelegte strafbewehrte Dokumente, in denen zu beachtende Dinge aufgezählt werden können. Die Höhe der vorgesehenen Strafe sollte so beziffert werden, daß sie diese Stelle auch wirklich entsprechend dem Risiko von Übergriffen auf Seite des Autisten entsprechend schmerzlich spürbar sein könnte. Damit verbunden sollte ggf. auch das Angebot einer Einwilligung zu geeigneter beweissichernder Dokumentation werden, denn wenn der Autist aus seinem Verfügungsbereich heraus einen Bruch der Absprache nicht gerichtsfest nachweisen könnte, würde in ihr keinerlei wirksamer Absicherung bestehen, denn die andere Seite könnte einfach bestreiten, daß der Autist z.B. körperlich angefasst wurde. Das würde dann aber auch kein gesteigertes Sicherheitsgefühl nach sich ziehen können, das einem Autisten dann erst wieder innerlich ermöglichen könnte sich einer Situation auszusetzen, da die Gegenseite zu dieser vertrauensbildenden Maßnahme zur Bekräftigung getroffener Absprachen bereit war. Zumindest wenn eine solche abgesicherte Konstellation zvor nicht bereits gescheitert war, da Absprachen trotzdem nicht umgesetzt wurden.

Würde eine Stelle die strafbewehrte Version einer Absprache zu Bedingungen der barrierefreien Zugänglichkeit ablehnen, darf daraus dann abgeleitet werden, daß diese Stelle sich selbst nicht hinreichend sicher ist, daß das eigene Personal die Absprache sicher umsetzen würde, was dann wieder die Unmöglichkeit dieser angebotenen Vorgehensalternative vom Autisten her an sich bedingen dürfte.

Zu Tag 149 ist im oben bereits verlinkten Fallbericht beispielhaft als eine Version davon bereits nachzulesen: „[…] eine solche Ihnen zusätzlich eröffnete Ersatzlösung aufgrund des von Seiten Ihrer Behörde schuldhaft zerrütteten Vertrauensverhältnisses und dessen unabänderlichen psychischen Folgen (zu erwartende nicht kontrollierbare Panik- und Angstblockade) eine solche Lösung zu eröffnen, bei der Ihre Behörde nun strafbewehrt versichern müsste, dass alle gemachten Absprachen durch die beteiligten Mitarbeiter Ihrer Behörde – sowie weiteres möglicherweise am gewählten Ort agierendes Sicherheitspersonal das z.B. zur Gebäudeverwaltung zählen könnte – unbedingt und vollumfänglich durch diese eingehalten würden. Sollte dagegen verstoßen werden, wäre eine einklagbare Vertragsstrafe von 1000€ von Ihrer Behörde her fällig. Und sollten Sie darauf nicht eingehen, dann wäre dies ein klarer Hinweis darauf, dass Sie selbst nicht darauf vertrauen würden, dass Ihre Mitarbeiter diese Abmachungen und Anforderungen sicher vollständig einhalten würden. Zwecks beweishafter Dokumentation wäre dann als weitere Bedingung das Einverständnis Voraussetzung gewesen von meiner Seite die gesamte Begegnung mit Ihren Mitarbeitern in Bild und Ton aufzuzeichnen.“

Dies bietet sich insbesondere in Konstellationen an, die auch körperlichen Kontakt umfassen und bei denen eine Vielzahl entsprechender Übergriffe und Verletzungen stattfinden könnten, weiteres beispielhaftes Zitat mit einer nicht abschließenden Aufzählung einiger nicht unwahrscheinlicher Übergriffe solcher Art von Tag 149: „Die ID-Prüfung findet wie beschrieben statt (kein mündliches Sprechen (unter mündlicher Kommunikation verstehe ich auch eine Begrüßung wzb „Hallo“ oder eine Verabschiedung „Tschüss“. Dies darf NICHT bei einem ID-Termin mit mir stattfinden), keine sonstigen Mitteilungen, keine körperlichen Berührungen oder Annäherung auf mehr als Griffweite zu meinem Rumpf, kein körperliches Bedrängen oder in den Weg stellen), jedoch abweichend vor dem Haupteingang des Jobcenters unter freiem Himmel“

Nicht jeder Autist neigt bei dieser Barriere zu Angst- und Panikattacken in dieser Weise, für andere kann sich auch eine erheblich reduzierte selektive Handlungsfähigkeit oder gar eine völlige selektive Handlungsunfähigkeit ergeben, indem er einfach nicht mehr in der Lage ist diese Situation für sich zu kalkulieren, Punkte zu finden, an denen im eigenen Handeln gegenüber dieser Stelle oder Person angesetzt werden kann, von denen ausgehend noch zu der Sache überhaupt weiter überlegt werden könnte, sich mit dem Gegenstand gedanklich überhaupt noch in sich zu befassen. Und das kann eine kontaktspezifisch-selektive Nichtzugänglichkeit für Autisten bedingen, die für sich genommen vergleichbar ist mit der Nichtzugänglichkeit durch Barrieren eher physischer oder körperlich-sensorischer Art. Während einer solchen selektiven Handlungsunfähigkeit können andere Kontakte wie gewohnt weiterlaufen, die in sich in der Gesamtbetrachtung vieler Faktoren keine entsprechend schwerwiegenden Barrieren aufweisen.

Folge derart fehlender Zugänglichkeit kann bei Autisten auch sein, daß bei nicht völliger durch die Umstände eines Kontakts bedingter selektiver Handlungsunfähigkeit ein komplexerer Sachverhalt, um den es in diesem speziellen Kontakt gehen würde nicht mehr gleichzeitig als Ganzes verhandelt werden kann, sondern nur noch Detailpunkt nach Detailpunkt. Etwa in dem Sinne, daß erst rein Detailpunkt 1 einvernehmlich geklärt sein müßte um dann danach einen neuen Detailpunkt angehen zu können, der dafür genügend überschaubar oder im Ansatz greifbar wirkt, um in der Kommunikation mit der anderen, Barrierefreiheit nicht umfassend zugestehenden, Seite doch noch langsam in der Angelegenheit vorankommen zu können.

Aus einer selektiv nicht zugänglichen Konstellation kann sich dann ebenso zudem auch ein Triggerkomplex herausbilden, also etwas das bei der reinen Erwähnung der fraglichen Stelle oder Person selektiv erheblich reduzierte Handlungfähigkeit oder gänzliche Handlungsunfähigkeit bewirken kann. Dafür kann z.B. ausreichen, daß nur ein Brief soeiner Stelle oder Person erhalten wird.

Die Folgen der Nichtzugänglichkeit in einem Kontakt, insbesondere z.B. zu Behörden, zu „Trägern öffentlicher Gewalt“, denen Bewohner eines Staates oft sozusagen ja ausgeliefert sind und die sozusagen darüber hinaus auch sinngemäß und empfunden Vertreter eines ganzen Gemeinwesens sind, sind zudem nicht immer nur selektiv auf diesen einzelnen Kontakt bezogen. Es kann sich bei Autisten in Folge solcher unversöhnlich, gnadenlos wirkenden Barrieren auch allgemeinere Handlungsfähigkeit einstellen bis hin zu wachsender Unfähigkeit eigene alltägliche, grundlegenere Angelegenheiten noch von sich heraus zu bewältigen. Die ganze Existenz des Autisten kann davon über längere Zeiträume überschattet werden und würde in dem Fall eine allgemein fortwirkende Belastung darstellen. Wir meinen dies mag von außen betrachtet dann depressiven Zuständen ähneln, stellt aber eigentlich etwas ganz anderes dar.

Daneben können solche Widrigkeiten um verweigerte Barrierefreiheit Autisten sicherlich auch depressiv machen oder gar schwere Depressionen bedingen. Zumal wenn sich solche Erlebnisse über seltene Einzelfälle hinaus in eigenen Lebensbereich häufen.

Nach unseren Erfahrungen liegt in der Dynamik der Barriere eines zerrütteten Vertrauensverhältnisses in einem Bereich des gesellschaftlichen Teilhabe bisher sehr häufig ein besonderes Eskalationspotenzial, das es angemessen erscheinen lassen könnte besonders zu ihr hervorgehoben allgemeingesellschaftliche Bewußtseinsbildung anzustreben.

Diese Barriere tritt in der Regel nur gegenüber Stellen oder Personen auf, die sich gegenüber Autisten sowieso bereits in irgendeiner schwerwiegenden Weise ignorant verhalten. Desöfteren kam es uns vor als würde z.B. in einer Behörde ein übliches allgemeines Drehbuch existieren „Querulanten“ in mehreren Schritten in die dort vorgesehene Spur zu drücken. Der Autist auf der anderen Seite weist hingegen oft auf einige typische Probleme hin. Da diese häufigen Schwierigkeiten fast nie auf Anhieb umfassend korrekt verstanden werden, ist bedeutend wie darauf reagiert wird, ob erkennbar wird, daß die andere Seite mitdenkt und so „psychische Verletzungen“ des Autisten vermeiden wird. Wenn darauf eingegangen wird kann ein zu Beginn neutral – oder aufgrund wiederholt schlechter zurückliegender Erfahrungen schon von Beginn an mehr skeptisch bis als belastend, kräftezehrend – empfundener Kontakt eine sich entwickelnde günstige Vertrauensgrundlage nach sich ziehen, aus deren Geschichte sich mehr und mehr Ansatzpunkte für ein Mitdenken, ein Mitwirken des Autisten ergeben.

Ignorant vorgehende Stellen oder Personen meinen wohl oft, der Autist habe zu Anfang irgendwelche Mondforderungen gestellt, sie wähnen sich in einer basarartigen Verhandlungssituation, wie sie sie wohl tatsächlich in vielen Kontakten zu Nichtautisten auch tatsächlich vorfinden werden. Manchmal picken sich solche Leute dann irgendetwas heraus und stimmen dem zu. Der Autist hat aber von sich aus erst auf einige Punkte hingewiesen, die im Umgang besonders bedeutend für eine barrierefreie Situation sind und die oft vorkommen. Es ist eher so, daß er damit eine für ihn absehbare Mindestschilderung abgibt.

Maximalforderungen gleich zu Beginn aufzureihen würde im Fall von Autisten aufgrund der Komplexität der Unterschiede zwischen Autisten und vielen Nichtautisten wohl eher auf ein mehrbändiges Buch hinauslaufen. Und viele dieser Punkte würden in einem einzelnen Kontakt wohl nie wirklich relevant werden, da die Situation sich einfach nicht entsprechend entwickelt. Und jeder Autist ist ja in seiner Strukturiertheit auch etwas verschieden, wenngleich die Minderheit der Autisten typische Eigenschaften vereint. Welche Minderheit ist schon eine Art Klonserie.

In diesem Eskalationsspiralen haben wir also oft sich gegenseitig moralisch auch noch bestärkende Nichtautisten, die mit dem Autisten meist gar nicht zu den Barrierefreiheitsfragen das Gespräch suchen und feststellen, daß die Basartaktik bei diesem halsstarrigen Individuum nicht nur nicht wirkt, sondern, daß der Autist aus deren Perspektive wohl dazu auch noch immer neue zu beachtende Punkte aufreiht, statt sich endlich „zu fügen“.

Das kann der Autist jedoch nicht, da es in der Situation eben um erforderliche Punkte zur Herstellung von Barrierefreiheit geht, die alle keineswegs Extremforderungen darstellen, sondern einfach sachlich thematisierte unausweichlich erforderliche Kriterien, die im Umgang mit ihm beachtet werden müssen.

Im Fall von Behörden haben wir es in diesen Fällen oft mit Sachbearbeitern zu tun, die zutiefst gewohnt sind über andere Menschen zu entscheiden, sie oft auch in Schranken zu weisen. Nach unseren Vermutungen fällt es vielen dieser Leute sehr schwer im Umgang mit Behinderten davon dann „umzuschalten“ auf eine geeignete rechtskonforme Herangehensweise an die Herstellung von Barrierefreiheit. Wie das gelingen könnte? Das könnten vielleicht eher reflektiertere Nichtautisten genauer eingrenzen?

Und darin liegt keine Lebensuntüchtigkeit, die Autisten eben pauschal zueigen wäre, sondern die Folge des ganz speziellen nicht barrierefreien Vorgehens der anderen Seite, welches bei anderem Vorgehen so nicht vorgekommen wäre.

Von dieser Schilderung ausgehend können nun wohl leicht weitere Verbindungen gezogen werden zu bereits langjährig bekannten Schilderungen zum Ordnungsbedürfnis von Autisten, die zwar meist von Eltern oder „Experten“ herstammen und folglich wie gewohnt überwiegend die tatsächlichen Sachverhalte um Autisten nur schlecht und teils falsch durchdringen. Aber es zeigt durchaus, daß „da was ist“, was dieser Barrierebeschreibung in mancher Hinsicht nicht unähnlich wirkt. Und es ist in jedem Kontakt ein bedeutender Faktor, ob eine Seite die elementaren Grenzen des anderen in angemessener Weise berücksichtigt oder über sie einfach den anderen als Mensch schädigenden Art und Weise hinwegfegt und zunehmend den gefestigten Eindruck erweckt auch Hinweise gar nicht zu lesen, zumindest nicht zu verstehen und zu beachten.

Weiterhin viele Fehldeutungen der KHV und §186 GVG

Auch in Hinblick auf unseren Artikel von 2008 zu diesem Thema ist auffällig, wie oft bis heute Behörden oder in selteneren Fällen selbst Gerichte die KHV zu Ungunsten von Behinderten fehldeuten.

Häufig wird dabei falsch die Ansicht verteten, da in der KHV beispielhaft gestützte Kommunikation genannt wird, sei nur diese Autisten zu gewähren. (Bei aller berechtigten Kritik an dieser Methode wird durch diese Erwähnung in der KHV ja klar formuliert, daß Autisten ausdrücklich zum gemeinten Personenkreis zählen, weswegen Autisten niemals fordern sollten, sie daraus ersatzlos zu streichen.) Dazu sei hier der Einfachheit halber als zusätzliche Argumentationsschablone aus einem Schriftsatz im Rahmen eines von der ESH begleiteten (erfolgreichen) Verfahrens zitiert:

„Gleichwohl wird als „Kommunikationsmethode“ im Sinne einer „anderen Kommunikationshilfe“ in § 3 Abs 2 Nr. 2 KHV „insbesondere“ die „gestützte Kommunikation für Menschen mit autistischer Störung“ angeführt. Offensichtlich geht die Kommunikationshilfeverordnung also von einem weiten Verständnis von „Hör- und Sprachbehinderung“ aus und bezieht auch die Kommunikationsbarriere mit Bezug zu neurologisch bedingten Personeneigenschaften in einer bestimmten Situation nicht mündlich kommunizieren zu können in den Formenkreis der „Hör- oder Sprachbehinderungen“ ein, was auch sinnvoll erscheint, da, wie schon der explizite Ansatz des BGG und der Titel der “Kommunikationshilfeverordnung“ deutlich machen hier nicht bestimmte Formen von Behinderungen privilegiert überwunden werden sollen, sondern behinderungsbedingte Kommunikationserschwernisse ausgeglichen werden sollen.

Anders als die Beklagte meint, ist die „gestützte Kommunikation“ für Autisten, wie sich aus dem „insbesondere“ ergibt, also nicht die einzig denkbare und in Betracht kommende Kommunikationsmethode für den Antragsteller, sondern lediglich ein Regelbeispiel für eine Kommunikationsmethode. Auch dass für Autisten keine andere Kommunikationsmethode angeführt wird ändert daran nichts, weil sich aus der Systematik der Norm ergibt, dass sie ergebnisorientiert ist, also die Kommunikation entsprechend den Bedürfnissen der behinderten Menschen möglich machen soll, und nicht methodenorientiert, also nur die Nutzung bestimmter Methoden und Kommunikationshilfen ermöglichen soll.“

Ergänzend sei hier ebenfalls im Rückgriff auf zurückliegende Verfahren darauf hingewiesen, daß der gerichtliche Verfahren regelnde §186 GVG in einer neuen Fassung wie die KHV im Jahr 2002 in Kraft getreten ist und die Begriffe „taub“ und „stumm“ durch den umfassenderen Begriff der „Hör- und Sprachbehinderung“ ersetzt hat. Demnach entspricht der Begriff im GVG dem in der KHV. Der §186 GVG gibt den hör- oder sprachbehinderten Personen das Recht in der Verhandlung mündlich, schriftlich oder mit einer die Verständigung ermöglichenden Person, die vom Gericht hinzuzuziehen ist, zu kommunizieren.

Auch der §186 GVG sagt nichts darüber aus, wie genau diese Verständigung zu erfolgen hat, lediglich, daß für die schriftliche Verständigung das Gericht „die geeigneten technischen Hilfsmittel“ bereitzustellen hat. Es ist nicht ersichtlich, daß für die schriftliche Kommunikation zwingend erforderlich ist, daß die behinderte Person im Gerichtssaal sitzt. §247a StPO macht deutlich, daß sogar im Strafverfahren belastende Zeugenaussagen von außerhalb des Gerichtssaales gemacht werden können. Jedenfalls ist angesichts der Norm selber eine Verständigung des Gerichts mit der betroffenen Person erforderlich, wie die Kommunikation nach §186 GVG auszugestalten ist, um dem Normzweck – Kommunikationsfähigkeit – und die Anforderungen des Verfahrens in Einklang zu bringen. Der §186 GVG verlangt, daß die behinderte Person auf ihr Wahlrecht hinzuweisen ist.

Zum Ablehnungsgrund „fehlende Mitwirkung“ und zur Anfechtungsklage

Ob in der Vorgeschichte der BSG-Entscheidung oder z.B. hier, wenn Behörden oder andere Stellen etwas aus dem formalen Grund „fehlende Mitwirkung“ verweigern, dann ist das ein absoluter Klassiker in Verfahren, in denen Barrierefreiheit eingefordert, aber nicht gewährt wird. Denkmuster: Wenn der Rollstuhlfahrer nicht die vier Stockwerke Treppen ins Büro kommt, zu dem auch kein geeigneter Fahrstuhl führt, dann verweigert der Rollstuhlfahrer seine Mitwirkung.

Laßt euch davon nicht irritieren, denn wir haben das Recht auf Barrierefreiheit. Die Anforderungen an die Ausgestaltung von Barrierefreiheit im Fall eines bestimmten Autisten zu vermitteln erweist sich jedoch oft als heikel, besonders wenn in Behörden nur „Dienst nach Vorschrift“ herrscht (oder die Beweggründe vielleicht noch deutlich schlimmere wären).

Teils wird zu einem greifbaren Aspekt erläutert, wie dazu Barrierefreiheit aussehen könnte und später kommen aufgrund des Verhaltens von Behördenseite oder einfach neu aufgetretener Situationen im Verwaltungsgang weitere Aspekte hinzu, die dann zu einem späteren Punkt weitere Erläuterungen hinzukommen.

Wenn dann nach ablehnenden Bescheiden rechtlich dagegen vorgegangen wird, dann sollte beachtet werden, daß Klagen vor Gericht bei einer Ablehnung wegen „fehlender Mitwirkung“ formell juristisch betachtet keine normale Leistungsklage darstellen, sondern eine Anfechtungsklage. Um dies zu verdeutlichen wird hier aus BSG, Urteil vom 01.07.2009 – B 4 AS 78/08 R zitiert, einer gerichtlichen Entscheidung, wie sie zu dieser Klageform im Internet zu finden ist.

„Die Vorschrift des § 54 Abs 4 SGG, deren Verletzung die Revision behauptet, ist für das Begehren nicht einschlägig. Nach § 54 Abs 4 SGG kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsaktes gleichzeitig die Leistung verlangt werden, wenn der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Die Regelung setzt nämlich voraus, dass die Verwaltung über die begehrte Leistung entschieden hat. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn der Leistungsträger die Leistung ohne abschließende Ermittlung bis zur Nachholung der Mitwirkung nach § 66 SGB I versagt. Gegen einen solchen Versagensbescheid ist grundsätzlich nur die Anfechtungsklage eröffnet (BSG SozR 1200 § 66 Nr 13; BSG SozR 4-1200 § 66 Nr 1).“

Quelle: https://openjur.de/u/169410.html

Das gilt entsprechend auch für andere Zweige der deutschen Gerichtsbarkeit:

„Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG vom 17.1.1985 NVwZ 1985, 490) und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (BayVGH vom 18.8.2006 Az. 9 C 06.1845 ) beschränkt sich die verwaltungsgerichtliche Überprüfung eines auf die fehlende Mitwirkung des Leistungsantragstellers gestützten Verwaltungsakts auf die gesetzlich bestimmten Voraussetzungen für die Versagung der Leistung. Bei Rechtswidrigkeit des Versagungsbescheids genügt dessen Aufhebung, die Behörde hat dann über den geltend gemachten Sozialleistungsanspruch in der Sache selbst zu entscheiden. Demnach hätte der Kläger den Bescheid vom 29. März 2010 nur mittels Anfechtungsklage angreifen können. Sein Klageziel, die Beklagte zur Bewilligung von Wohngeld für den Bewilligungszeitraum von Dezember 2009 bis November 2010 zu verpflichten, kann er durch die von ihm erhobene Versagungsgegenklage nicht erreichen. Obwohl das Gericht den zuletzt anwaltlich nicht mehr vertretenen Kläger in der mündlichen Verhandlung am 26. April 2012 darauf explizit hinwies, stellte dieser dennoch den Verpflichtungsantrag entsprechend dem Schriftsatz seiner früheren Bevollmächtigten vom 9. Dezember 2010.“

Quelle: https://openjur.de/u/535345.html (VG München, Urteil vom 26.04.2012 – M 22 K 10.4598)

Merkzeichen G

“G” steht für gehbehindert und umfasst nicht nur Probleme mit dem Gehen an sich, sondern auch mit der Orientierungsfähigkeit und Hemmnisse wegen empfindlicher Wahrnehmung und Reizüberflutung (inneres psychisches Leiden). Relevant ist auch, daß die Person sich sicher und ohne unzumutbares Leiden im städtischen Straßenverkehr (unabhängig vom eigenen Wohnort) fortbewegen kann. Die in manchen Urteilen vertretene Ansicht, daß die Voraussetzungen erfüllt wären, wenn 2km nicht in 30 Minuten zurückgelegt werden können teilt die Rechtsprechung nicht einheitlich: http://www.anhaltspunkte.de/rspr/urteile/L_13_SB_44.04.htm
Die gesetzliche Definition der Voraussetzungen lautet wie folgt:

Zitat:

“SGB9 § 146 Persönliche Voraussetzungen
(1) In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. […]”

Quelle: http://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9/__146.html

Dieses Merkzeichen steht Autisten oft zu.

Immer wieder kommt es auch bezüglich des Merkzeichens G vor, daß Behörden oder Gerichte Autisten die Zuerkennung verwehren, da der GdB nicht hoch genug sei. Dies ist so nicht korrekt wie z.B. aus dem Fall eines freiberuflich erwerbstätigen (!) Autisten mit GdB 50 hervorgeht, dem Merkzeichen G und B zuerkannt wurden.

Zitat:

“Das Gericht weist nach der Zwischenberatung darauf hin, dass die Merkzeichen G und B hier zu vergeben sein dürften. Insbesondere nach der Rechtsprechung des BSG ist kein Einzel-GdB von 70 im psychischen Bereich erforderlich. Auch ergibt sich dies nicht aus der VersMedV. Die Kammer geht hier von einem besonders gelagerten Einzelfall aus nach der Beweisaufnahme, so dass auch bei einem GdB von unter 80, hier 50, das Merkzeichen G zu vergeben ist und somit auch das Merkzeichen B.”

Quelle: SG Berlin Az. S 40 SB 2534/13, Sitzungsprotokoll vom 30.6.2016

Ebenso ist immer wieder zu beobachten, daß Kriterien angelegt werden, die nicht rechtskonform sind. Beispielsweise die Angabe der klagende Autist könne ja zumindest manchmal alleine im nahegelegenen und seit Jahren bekannten örtlichen Supermarkt alleine einkaufen. Hierzu sei eine Aussage des autistischen Klägers im oben angeführten Verfahren SG Berlin Az. S 40 SB 2534/13 zitiert, die dieser zu Protokoll gab, bevor das Gericht zu dessen oben zitierter Einschätzung kam.

Zitat:

„Es ist entspannender wenn ich jemanden dabei habe, dann muss ich mich nicht aufregen. In der Nachbarschaft habe ich [Name Supermarktkette], einen Späti und eine Buchhandlung. Da kann ich hingehen, Es gibt auch ein Kino mit Kneipe, da gehe ich eher nicht alleine hin.“

Interessant ist unter anderem diese einem weiteren Gerichtsurteil entnommene Erklärung eines einzelnen Aspektes, die veranschaulicht, daß alleine schon Schmerzen bei der Fortbewegung G begründen können, die in mindestens 40% der Fälle den Antragsteller daran hindern eine Wegstrecke zurückzulegen:

Zitat:

“Diese Schmerzen werden durch Gehen noch verstärkt, wie Dr. M. in seinem Bericht geschildert hat. Der ärztliche Sachverständigenbeirat beim BMA hat mit Beschluss von März 1987 festgestellt, dass häufige entzündliche Hautveränderungen im Genitalbereich, die zu erheblichen Schmerzen beim Gehen führen, den Nachteilsausgleich “G” rechtfertigen können. Auch bei Bauchdecken- und Narbenbrüchen bei Stoma-Trägern ist der Nachteilsausgleich “G” gerechtfertigt, wenn die Behinderung mit erheblichen Schmerzen beim Gehen verbunden ist (Beirat November 1994). Die bei der Klägerin vorliegende Behinderung ist mit den vorgenannten Behinderungen vergleichbar. Dies folgt auch aus den Aufzeichnungen der Klägerin, die diese dem Gericht überlassen hat und die das Gericht für glaubhaft hält. Danach besteht häufig ein Zustand der es der Klägerin verbietet, ortsübliche Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen. Nach Auffassung der Kammer dürfte diese Häufigkeit mindestens 40% der Fälle betreffen, was nach der Rechtsprechung, der sich die Kammer hier anschließt – für den Nachteilsausgleich “G” ausreichend ist (LSG Hessen Az.: L 4 SB 1351/95 ; VdK -Kommentar zu den “Anhaltspunkten” zu Punkt 30 Anm. 10 p).””

Quelle: SG Düsseldorf Az.: S 31 (38) SB 238/99 vom 30.10.2000 http://www.anhaltspunkte.de/rspr/g.htm#1
Nachteilsausgleiche bei Merkzeichen G

  1. G berechtigt entweder zu einer Halbierung der KFZ-Steuer inklusive möglichem Rabatt bei der KFZ-Haftpflichtversicherung oder zum Kauf einer Wertmarke (unter 100€ pro Jahr falls man kein “Sozialfall” ist, die genaue Summe ändert sich immer mal), die mit dem Schwerbehindertenausweis deutschlandweit als Flatrate-Fahrkarte im ÖPNV nach bestimmten nicht ganz einfach zuverstehenden Regeln genutzt werden kann.
  2. Mehrbedarfserhöhung bei der Sozialhilfe von 17 % bei Alter ab 65 oder voller Erwerbsminderung.
  3. Wahlweise Ansatz der tatsächlichen Kosten für Fahrten zur Arbeitsstätte mit dem Kfz als Werbungskosten ab dem 1. km statt der pauschalen 0,30€/km ab dem 21. km. Das Gleiche gilt für Familienheimfahrten, wenn ein Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, in dem er einen eigenen Hausstand unterhält, beschäftigt ist und am Beschäftigungsort wohnt. (gilt bei GdB 50 und G sowie ab GdB 70 ohne Merkzeichen)
  4. Ab GdB 70 (?) und G (oder GdB 80 ohne Merkzeichen): Abzugsbetrag für Privatfahrten im eigenen Kfz (oder sonstigen Verkehrsmitteln einschließlich Taxis (und fremden Kfz?), sofern kein eigenes Kfz besessen wird) neben dem erhöhten Steuerfreibetrag als außergewöhnliche Belastung in der Regel bis zu 3.000 km x 0,30€ = 900€.
  5. Neben Rabatten bei der Kfz-Haftpflicht gibt es auch oft Rabatte bei Autohändlern, wenn G nachgewiesen wird. Fluglinien geben ebenfalls teilweise freiwillig Rabatte.

Merkzeichen B

“B” bedeutet, daß man das Recht hat in öffentlichen Verkehrsmitteln kostenlos eine Begleitperson mit sich zu führen, was in vielen öffentlichen Verkehrsmitteln (die Kriterien sind weiter gefasst als bei der Wertmarke, sie umfassen auch den Fernverkehr der Bahn und werden auch von einzelnen Fluglinien anerkannt) aber auch in vielen Museen, Schwimmbädern und vergleichbaren Einrichtungen gilt.

Die gesetzliche Definition der Voraussetzungen lautet wie folgt:

Zitat:

“SGB9 § 146 Persönliche Voraussetzungen(2) Zur Mitnahme einer Begleitperson sind schwerbehinderte Menschen berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind. Die Feststellung bedeutet nicht, dass die schwerbehinderte Person, wenn sie nicht in Begleitung ist, eine Gefahr für sich oder für andere darstellt.”

Quelle: http://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9/__146.html

Die Voraussetzungen werden bei Autisten denen zu “G” gleichen, weswegen ein Autist, der G bekommt auch immer B bekommen sollte. Eine solche Verknüpfung leitete sich aus dem Verweis von Kapitel 32 zu Kapitel 30, 4 und 5 in den AHP ab, wobei die Eingruppierung von Autisten dort nicht klar vorgenommen wurde. Die AHP besaßen keinen Gesetzescharakter. Inzwischen gilt als entsprechende gesetzliche Grundlage seit geraumer Zeit die VersMedV.

Zitat:

“AHP Kapitel 32(3)Die Notwendigkeit ständiger Begleitung ist anzunehmen bei

[…]

den in Nummer 30 Absätze 4 und 5 genannten Sehbehinderten, Hörbehinderten,geistig behinderten Menschen und Anfallskranken, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist.”

Quelle: http://www.bmas.bund.de/BMAS/Redaktion/Pdf/Publikationen/anhaltspunkte-f…

Immer wieder kommt es bezüglich der Merkzeichen G und B vor, daß Behörden oder Gerichte Autisten die Zuerkennung verwehren, da der GdB nicht hoch genug sei. Dies ist so nicht korrekt wie z.B. aus dem Fall eines freiberuflich erwerbstätigen (!) Autisten mit GdB 50 hervorgeht, dem Merkzeichen G und B zuerkannt wurden.

Zitat:

“Das Gericht weist nach der Zwischenberatung darauf hin, dass die Merkzeichen G und B hier zu vergeben sein dürften. Insbesondere nach der Rechtsprechung des BSG ist kein Einzel-GdB von 70 im psychischen Bereich erforderlich. Auch ergibt sich dies nicht aus der VersMedV. Die Kammer geht hier von einem besonders gelagerten Einzelfall aus nach der Beweisaufnahme, so dass auch bei einem GdB von unter 80, hier 50, das Merkzeichen G zu vergeben ist und somit auch das Merkzeichen B.”

Quelle: SG Berlin Az. S 40 SB 2534/13, Sitzungsprotokoll vom 30.6.2016

Ebenso ist immer wieder zu beobachten, daß Kriterien angelegt werden, die nicht rechtskonform sind. Beispielsweise die Angabe der klagende Autist könne ja zumindest manchmal alleine im nahegelegenen und seit Jahren bekannten örtlichen Supermarkt alleine einkaufen. Hierzu sei eine Aussage des autistischen Klägers im oben angeführten Verfahren SG Berlin Az. S 40 SB 2534/13 zitiert, die dieser zu Protokoll gab, bevor das Gericht zu dessen oben zitierter Einschätzung kam.

Zitat:

„Es ist entspannender wenn ich jemanden dabei habe, dann muss ich mich nicht aufregen. In der Nachbarschaft habe ich [Name Supermarktkette], einen Späti und eine Buchhandlung. Da kann ich hingehen, Es gibt auch ein Kino mit Kneipe, da gehe ich eher nicht alleine hin.“

Merkzeichen RF

“RF” bedeutet rundfunkgebührenbefreit, seit der Einführung des Rundfunkbeitrags Anfang 2013 wird gemäß §4 Abs. 2 RBStV keine volle Befreiung mehr gewährt, sondern lediglich eine Ermäßigung auf ein Drittel. Die Anspruchsvoraussetzungen hatten sich im Zuge der Einführung des Rundfunkbeitrags nicht geändert.

Autisten erfüllen die Voraussetzungen für RF, wenn sie wegen Reizüberflutung, daraus aufgrund derartiger Barrierelastigkeit entstehendem Leiden und Unfähigkeit der Veranstaltung halbwegs zu folgen nicht in der Lage sind öffentliche Veranstaltungen unter zumutbaren Bedingungen zu besuchen.

Bis heute wird vom Behörden und auch manchen Gerichten bei Autisten darauf verwiesen, daß nur bei einem GdB von 80 das Merkzeichen RF zuerkannt werden kann. Das ist so jedoch nicht korrekt wie z.B. aus LSG Berlin-Brandenburg Az. L 13 SB 1/11 vom 22.08.2013 deutlich wird. In diesem Fall war dem Kläger Agoraphobie attestiert worden, was rechtlich gut vergleichbar mit den Folgen von Barrieren für Autisten ist:

Zitat:

“Ein ständiger Ausschluss von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen kann auch beim Vorliegen psychischer Erkrankungen gegeben sein (vgl. BSG, Urteile vom 16. Februar 2012 – B 9 SB 2/11 R und vom 28. Juni 2000 – B 9 SB 2/00 R -; Urteil des Senats vom 14. März 2013 – L 13 SB 76/11 – und LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Januar 2013 – L 3 SB 3862/13 -). Nach dem zitierten Urteil des BSG vom 16. Februar 2013 liegt ein gesundheitlich bedingter Härtefall, der die Zuerkennung des Merkzeichens ‚RF‘ rechtfertigt, regelmäßig auch dann vor, wenn eine Person mit einem GdB von weniger als 80 wegen eines besonderen psychischen Leidens ausnahmsweise an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann. Insoweit handelt es sich allerdings wegen des Nichterreichens eines GdB von 80 um einen nach landesrechtlichen Voraussetzungen geregelten Härtefall, so dass die Befreiung bzw. Ermäßigung in das Ermessen der Rundfunkanstalt gestellt ist.

Dies zugrunde gelegt liegen zur Überzeugung des Senats die gesundheitlichen Voraussetzungen für das von der Klägerin begehrte Merkzeichen ‚RF‘ ab der Antragstellung im Jahre 2009 vor. Der Senat folgt insoweit der Einschätzung des Sachverständigen Dr. M, der nachvollziehbar dargelegt hat, dass die Klägerin aufgrund der bestehenden Agoraphobie seit der Antragstellung unverändert nicht in der Lage ist, an entsprechenden Veranstaltungen im zuvor skizzierten Sinne teilzunehmen. Er hat überzeugend ausgeführt, dass die bei der Klägerin bestehenden Ängste und Phobien verbunden mit Panikstörungen auf schwerwiegende Traumatisierungen in der Kindheit, Jugend und Ehe zurückzuführen sind. Aus den Feststellungen des Sachverständigen ergibt sich zur Überzeugung des Senats, dass diese Störungen nahezu unverändert fortbestehen. Zwar gelingt es der Klägerin zwischenzeitlich gelegentlich Einkäufe im geringen zeitlichen Umfang selbst zu tätigen und in Begleitung ihrer Tante vereinzelt Straßenbahn und Bus zu fahren. Gleichwohl leidet sie unverändert an einer schweren Persönlichkeitsstörung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die dazu führen, dass
Menschenansammlungen von der Klägerin weitestgehend gemieden werden. Aufgrund des von dem Sachverständigen Dr. M beschriebenen Gesamtbildes der bei der Klägerin bestehenden psychischen Störungen mit zeitweiligen Panikattacken ist auch der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin nicht in der Lage ist, an öffentlichen Veranstaltungen jeglicher Art teilzunehmen, die länger als 30 Minuten dauern. Die im Befundbericht des Dr. K vom 14. März 2000 nicht nähere belegte und zudem bloße Einschätzung des behandelnden Arztes, dass die Klägerin in Begleitung und auf Drängen einer Begleitperson in der Lage sei, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen steht dem nicht entgegen.

Der Ausschluss der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen führt dazu, dass mit Blick auf den zuerkannten GdB von 80 ab dem 1. Dezember 2009 ab diesem Zeitpunkt die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens ‚RF‘ gegeben sind. Für die Zeit zuvor bis zur Antragstellung ist der GdB zwar – wie nachfolgend dargelegt – lediglich insgesamt mit 70 zu bewerten. Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens ‚RF‘ sind indes gleichwohl auch für diesen Zeitraum erfüllt, weil die psychische Störung der Klägerin wegen der anhaltenden Phobien insoweit nicht anders zu bewerten ist und die Erhöhung des GdB von 70 auf 80 allein auf einer Änderung der Funktionsbeeinträchtigungen des Wirbelsäulenleidens beruhen, mithin keine signifikante Abweichung gegeben ist, die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens ‚RF‘ für die Zeit vor dem 1. Dezember 2009 anders zu beurteilen. Für die Zeit vor dem 1. Dezember 2009 wird jedoch ggf. die Rundfunkanstalt darüber zu befinden haben, ob sie einen Härtefall als gegeben ansieht.”

Quelle: LSG Berlin-Brandenburg Az. L 13 SB 1/11 vom 22.08.2013 http://www.anhaltspunkte.de/rspr/urteile/L_13_SB_1.11.htm

In den meisten Broschüren steht, daß die Nichtzugänglichkeit für alle Veranstaltungen gelten muß, was jedoch von der Rechtsprechung nicht geteilt wird und somit eine Falschinformation ist. Aus einem Urteil hierzu, das sinngemäß Aufschluß über die anzulegenden Maßstäbe gibt:

Zitat:

“Insoweit beruft sich der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 02.05.2002 zu Unrecht auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 03.06.1987 – 9a RVs 27/85 -. Zwar hat das Bundessozialgericht in dieser Entscheidung festgestellt, dass es einem Behinderten zuzumuten ist, die Hilfe Dritter bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel in Anspruch zu nehmen und dass daher ein Behinderter der von einer dritten Person in einem Rollstuhl geschoben werden muss, nicht grundsätzlich von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen ist. Allerdings darf diese Entscheidung nicht so ausgelegt werden, dass damit praktisch jeder Behinderte noch als fähig angesehen wird, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Beschränkt man nämlich die Feststellung des Bundessozialgerichts allein auf die Tatsache, dass ein Behinderter noch zu einer öffentlichten Veranstaltung hingeschoben werden kann, so ist der Besuch von öffentlichen Veranstaltungen praktisch jedermann möglich, denn nur in seltenen Ausnahmefällen und bei schwersten akuten Erkrankungen wird es nicht möglich sein, einen behinderten Menschen in einen Rollstuhl zu setzen und zu einer öffentlichen Veranstaltung zu transportieren.Entscheidendes Kriterium für die Beurteilung, ob jemand noch an öffentlichen Veranstaltungen in zumutbarer Weise teilnehmen kann, ist daher nicht die Frage, ob dieser Behinderte in einem Rollstuhl zu einer öffentlichen Veranstaltung hin- und zurücktransportiert werden kann, sondern entscheidend kann nur die Frage sein, ob der behinderte Mensch in ähnlichem Umfang von öffentlichen Veran­staltungen ausgeschlossen ist, wie der in der Punkt 33 der “Anhaltspunkte” aufgeführte Personenkreis, dem der Nachteilsausgleich “RF” grundsätzlich, ohne weitere Prüfung, gewährt wird.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass der in Punkt 33 der Anhaltspunkte aufgeführte Kreis von Behinderten auch ohne weiteres in der Lage wäre, mit Hilfe von Begleitpersonen an einer öffentlichen Veranstaltung teilzunehmen. Sowohl hochgradig Sehbehinderte (Punkt 33 (2) a) wie auch Behinderte mit schweren Bewegungsstörungen (Punkt 33 (2) c), können grundsätzlich unproblematisch an verschiedenen öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Für Hörgeschädigte (Punkt 33 (2) b) gibt es sogar spezielle öffentliche Veranstaltungen. Gleichwohl schreiben die “Anhaltspunkte” vor, dass ab einem GdB von 50, das entspricht “lediglich” einer beiderseitigen hochgradigen Schwerhörigkeit (gemessen ohne Hörhilfe) der Nachteilsausgleich “RF” in der Regel zu gewähren ist, obwohl keineswegs ersichtlich ist, warum diese Behinderten nicht z.B. an einer Sportveranstaltung oder ähnlichem teilnehmen könnten.”

Quelle: SG Düsseldorf – Urteil vom 23.12.2002 – Az.: S 31 SB 197/02 http://www.anhaltspunkte.de/rspr/urteile/sg_duess%2023.12.02%20197.02.htm

Im übrigen ist bei der Prüfung der Voraussetzungen (Zitat aus dem untern erwähnten Urteil) “zu berücksichtigen, dass im allgemeinen auf einen Rollstuhlfahrer in der Öffentlichkeit mehr Rücksicht genommen wird als auf einen Menschen, der nicht offensichtlich schwer behindert ist.” Das dürfte bei Autisten zweifellos der Fall sein.

Quelle: Bayerisches Landessozialgericht – Urteil vom 30.06.2005 – Az.: L 15 SB 106/04 http://www.anhaltspunkte.de/zeitung/urteile/L_15_SB_106.04.htm

Link zur Deutschen Umsetzung von UN-Dok. A/HRC/22/53 vom 1. Februar 2013 (Einordnung von Methoden der Psychiatrie als verbotene Folter)

Berichts des Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, Juan E. Mendéz:

Link zum Dokument (extern)

Zusammenfassung:

Zitat:

Der vorliegende Bericht befasst sich mit bestimmten Formen des Missbrauchs in Gesundheitseinrichtungen, die unter Umständen eine Schwelle überschreiten, nach der Misshandlung zu Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe wird. Er zeigt die Grundsatzregelungen auf, die diese Praktiken begünstigen, und nennt bestehende Schutzlücken.Durch seine Beschreibung einiger der missbräuchlichen Praktiken in Gesundheitseinrichtungen wirft der Bericht ein Licht auf oftmals unbemerkte Formen solcher Praktiken, zu denen es unter dem Dach der Gesundheitspolitik kommt, und stellt heraus, wie bestimmte Therapien dem Verbot der Folter und Misshandlung zuwiderlaufen können. Er stellt dar, in welchem Umfang die Staaten gehalten sind, Maßnahmen der Gesundheitsversorgung zu regulieren, zu kontrollieren und zu beaufsichtigen, um Misshandlungen zu verhüten, gleichviel, unter welchem Vorwand sie verübt werden.

Der Sonderberichterstatter prüft verschiedene der häufig gemeldeten Missbräuche in Gesundheitseinrichtungen und beschreibt, inwieweit das Rahmenwerk zu Folter und Misshandlung in diesem Kontext Anwendung findet. Die hier erörterten Beispiele von Folter und Misshandlung in Gesundheitseinrichtungen stellen wahrscheinlich nur einen kleinen Bruchteil dieses weltumspannenden Problems dar.

Bestellung eines Notanwalts

Viele Autisten haben große Probleme Anwälte zu finden, die ihre Rechte vertreten. Auch wenn man es kaum glauben mag scheint es für Anwälte oft ein großes Problem darzustellen rein fernschriftlich mit einem Mandanten zu kommunizieren.

Andererseits sieht das deutsche Recht für manche gerichtliche Instanzen Anwaltszwang vor. Man hat also nur über einen Anwalt Zugang zu diesen Instanzen. Als Ausgleich sieht ZPO §78b Folgendes vor:

Zitat:

ZPO § 78b Notanwalt
(1) Insoweit eine Vertretung durch Anwälte geboten ist, hat das Prozessgericht einer Partei auf ihren Antrag durch Beschluss für den Rechtszug einen Rechtsanwalt zur Wahrnehmung ihrer Rechte beizuordnen, wenn sie einen zu ihrer Vertretung bereiten Rechtsanwalt nicht findet und die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht mutwillig oder aussichtslos erscheint.
(2) Gegen den Beschluss, durch den die Beiordnung eines Rechtsanwalts abgelehnt wird, findet die sofortige Beschwerde statt.

Quelle: http://www.gesetze-im-internet.de/zpo/__78b.html

Wer keinen Anwalt findet um eine Instanz mit Anwaltszwang zu erreichen, der kann also bei dem jeweiligen Gericht unter den genannten Bedingungen einen Notanwalt beantragen. Dabei sollten Autisten dann bereits möglichst klar darstellen, welche Umstände für sie barrierefrei wären und von dem Anwalt zu erfüllen sind. Man wird so vielleicht nicht immer einen guten Anwalt finden, aber es ist zumindest formal gesehen eine Möglichkeit, derer man sich bewußt sein sollte. Auch ein Notanwalt kostet Geld und ist nicht mit einem Antrag auf Prozesskostenhilfe zu verwechseln.

Es wäre für uns interessant Erfahrungen von Autisten mit diesem Instrument mitgeteilt zu bekommen um ein genaueres Bild zu bekommen, inwieweit dieser Weg für Autisten funktioniert oder eben auch nicht.

Unser Stand beim DGPPN-Kongress 2011

Die Autisten der Enthinderungsselbsthilfe von Autisten für Autisten, Angehörige und Interessierte – ESH waren mit einem Messestand auf der diesjährigen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde vom 23. – 26.11.2011 vertreten. Ziel dieser Begegnung war es, dem anwesenden Personenkreis ausführliche Beratung durch Autisten anzubieten und dadurch künftig aus Unverständnis entstandenes und bestehendes Leiden von Autisten mindern bzw. ausmerzen zu helfen aufklärend zu wirken. Die ESH erfährt durch Mitglieder und Ratsuchende immer wieder, dass sowohl in der Diagnostizierung als auch in der Anwendung von Therapiemodellen ein umfangreiches Defizit hinsichtlich barrierefreier Kommunikation als auch im Verständnis der Zusammenhänge autistischen Seins besteht.

Am Stand der ESH bestand für die gesamte Dauer des Symposiums und der Medizinindustrieausstellung die Möglichkeit der barrierefreien fernschriftlichen Kommunikation per Internet mit Autisten. So konnten Autisten unmittelbar Fragen gestellt werden, ohne dass diese körperlich die belastende Umgebung der Messe aufsuchen mussten.

Auffallend war das offene Interesse ausländischer Besucher aus Österreich, Niederlande, Lettland und insbesondere der Schweiz. Das lässt vermuten, dass in den genannten Ländern das Selbstverständnis, mit Autisten fernschriftlich zu verkehren und sich Informationen bei Experten in eigener Sache einzuholen, ausgeprägter ist als in Deutschland.
Bei den deutschen Interessierten war ein Altersgefälle erkennbar: Junge Berufstätige, die in ärztlicher oder pflegerischer Hinsicht mit Autisten vertraut sind, zeigten sich aufgeschlossener gegenüber den Beratungen durch Autisten selbst als ältere Kollegen. Es fiel ihnen auch leichter, über Defizite in den Kenntnissen über Autismus zu sprechen.

Abschließend sei noch bemerkt, daß all dies von den Messeplanern genau gegenüber einer Art geistig-moralischer Bankrotterklärung aus dem Hause Merck & Co Inc./Lundbeck platziert wurde (Foto). Es sei dem Betrachter überlassen, ob er die wohl beabsichtigte Einordnung der moderat abstrahierten künstlerischen Darstellung einer Person als korrekturbedürftig und quasi „entartet“ auch schon angesichts der deutschen Geschichte als ungeheuerlich empfindet oder eher das höchst fragwürdige Spiel mit dem Begriff des Ichs auf dem sündhaft teuren mit ca. 10 Personen als Dauerbesetzung versehenden Reklamestand eines Neuroleptikums mit Zulassungsproblemen.


http://de.wikipedia.org/wiki/Sycrest

Anmerkungen zur Umsetzung von Assistenz

Manche Autisten sind durch langjährig aufgehäufte Belastungen in einem unpassenden Lebensumfeld psychisch so angegriffen, daß sie ihren Alltag nicht vollständig selbst gestalten können. Für eine langfristige Erholung, die manchmal auch unter optimalen Bedingungen Jahre braucht, weil innerlich entsprechend viel aufzuarbeiten ist, bedarf es einer entsprechenden Ausgestaltung der Assistenz.

Assistenz wird von vielen großen Trägern angeboten und mit vollmundigen Versprechen versehen. Leider gibt es erhebliche Risiken solcher trägerorganisierter Assistenzmodelle:

– Bevormundende Einmischungen, Verweigerung der Umsetzung von Tätigkeiten, wie der Assistenznehmer sie in Auftrag gibt
– Mangelnde Bemühungen, da der Assistenznehmer nicht ernsthaft als Auftraggeber und für die Sache maßgebliche Person erkannt wird.
– Unbekannte Dienstanweisungen an die die vom Träger angestellte Assistenzpersonen gebunden sind
– Weitgehend unkontrolliert wechselndes Personal mit jedes Mal neuen fragwürdigen Ansichten zu Autismus
– Keine vorhandene Schweigepflicht oder ggf. nur rechtlich minderwertige und ungenügende Schweigepflicht
– Führung und Archivierung von Berichten der trägerfinanzierten Assistenz über die Person der assistiert wird ohne jede Einschränkungen bezüglich von Fragen der Intimität die noch nach vielen Jahren mit eventuell massenhaft hineingeschriebenen Mißverständnissen hervorgeholt werden kann und im ungünstigsten Fall auch zwischen Stellen herumgereicht wird (Datenschutzvorgaben, sofern formal überhaupt vorhanden, werden oft völlig ohne jedes Schuldbewußtsein nicht eingehalten). Besonders gefährlich in Regionen, in denen „Landschaftsverbände“ als Sozialamt und Anbieter von Assistenzleistungen zugleich fungieren.
– Allgemein mangelndes Gefahrenbewußtsein bei der Verwaltung sensibler Daten in EVD-Systemen, in einem Fall standen tausende psychiatrische Akten eines Trägers aufgrund eines „Programmierfehlers“ frei abrufbar im Internet.
– Anfertigung von Berichten für dritte Stellen die Gerichte in Betreuungssachen ohne Frage um Erlaubnis oder auch nur Benachrichtigung, daß ein solcher Bericht verfasst wurde

Aus der Erfahrung stellte sich für uns manchmal die Frage, ob solche Angebote tatsächlich vielleicht vor allem den Zweck verfolgen die betreffenden Personen zu überwachen und dafür mit dem eigentlich nicht sehr wichtig genommenen Köder „Assistenz“ lockt.

Deswegen raten wir grundsätzlich davon ab und verweisen auf das „Arbeitgebermodell“ beziehungsweise das „Persönliche Budget“ hinweisen möchten, bei welchem die assistierende Person direkt angestellt werden kann. Wenn es bei Durchsetzung und Verwaltung Probleme gibt hilft die ESH. Eine trägerorganisierte erscheint oft zunächst einfacher und problemloser, weil man sich selbst ersteinmal um wenig kümmern muß. Sie kostet den Staat jedoch erheblich mehr für oft minderwertige Leistung. Z.B. kostet den Staat die trägerorganisierte Assistenz im Rahmen eines ambulant betreuten Wohnens 1000€ für 20 Stunden im Monat (50€ pro Stunde). Im Rahmen des Persönlichen Budgets wird in der Regel versucht diese Summe für die gleiche Leistungsbeschreibung auf einen Bruchteil zu kürzen.

Assistenz wird heute noch immer teilweise dazu eingesetzt um mangelnde Bereitschaft zu Barrierefreiheit in anderen Stellen „bequem“ (aber teuer für die Allgemeinheit) aus Sicht der Träger und Ämter zu umgehen. Hierzu sei deutlich angemerkt, daß Assistenz hierfür nicht eingesetzt werden soll, da der einzig richtige Weg die Durchsetzung der Barrierefreiheit und somit des rechtlichen Anspruchs auf weitgehende Selbstständigkeit ist.

Freiheitsberaubung durch Psychopharmaka oder Unterbringung

Dieses Thema ist schwierig und wenn hierzu eine Interessenvertretung einer weithin stigmatisierten Bevölkerungsgruppe wie die ESH klare Position bezieht wird dies leicht als „hysterisch“ empfunden oder gleichermaßen herablassend belächelt wie es auch gegenüber Autisten und ihren Interessensbekundungen generell immer wieder passiert, gerade wenn sie äußerlich seltsam wirken. Die meisten Mitmenschen sind sich über die Tragweite dieses Themas nicht ansatzweise bewußt, dies muß man wohl als Tatsache akzeptieren. Ebenso wie Haltungen der Art, daß alleine schon eine hergestellte Verbindung einer Person zu Psychiatrie nicht selten zu einer erheblichen Reduzierung der zwischenmenschlichen Achtung führt und das auch sehr oft gerade bei Personen, die nahezu täglich in diesem Bereich zu tun haben. Oft mitgetragenes Unrecht stumpft ab. Um eine kleine Einordnung zu ermöglichen seien zunächst einige Textpassagen von verschiedenen Internetseiten zitiert:

Zwangserleben hinterlässt meist tiefe Spuren an der Seele:

Zitat:

„Vor der Urteilsverkündung am 15. Juli 1988 sagte meine Frau, sie fühlt sich im Sinne der Anklage als nicht schuldig. Sie kann es als mündige Bürgerin der DDR nicht verstehen, dass ein Udo Lindenberg aus der BRD das Recht genießt, mit Herrn Honecker Briefe und Geschenke auszutauschen, und wir als mündige Bürger dieses Staates nicht das Recht haben, eine Antwort auf unser Ausreiseanliegen zu bekommen. Wir werden zu drei Jahren und zwei Monate Gefängnis verurteilt. Meine Frau kommt in das gefürchtete Frauenzuchthaus Hoheneck bei Stollberg im Erzgebirge und ich nach Brandenburg.
Wochenlang wartete ich auf ein Lebenszeichen von meiner Frau. Ich verstehe nicht, dass sie mir nicht antwortet. Drei Briefe im Monat dürfen wir uns schreiben. Schließlich am 1. September erfahre ich von einem Beamten, dass meine Frau mit einem Nervenzusammenbruch im Haftkrankenhaus Leipzig-Meusdorf liegt. Ich habe die Eltern von meiner Frau darüber informiert, sie wollen sie besuchen, sie werden abgewiesen. Erst zehn Tage später erhalten sie eine Erlaubnis meine Frau zu besuchen. Blass, abgemagert und ängstlich kommt sie auf ihre Eltern zu. Sie sagt immer „Mutti, ich habe alles falsch gemacht. Mutti, du ahnst nicht, was im Gefängnis los ist. Ich war mit Mörderinnen in einer Zelle, die mich beschimpft und bespuckt haben.“
Was ist mit ihr los, sie war doch immer so tatkräftig und optimistisch und nun steht sie zitternd vor ihnen. Sie sagt: „Am Anfang habe ich die Medikamente immer ausgespuckt, weil ich sonst nicht mehr klar denken konnte. Aber ich verspreche euch, ich nehme sie“. Sie stand unter Psychopharmaka. Nach neun Wochen kommt meine Frau als „gesunde Strafgefangene“ zurück ins Zuchthaus Hoheneck. Zuvor haben die Eltern meiner Frau in zwei Briefen den Chefarzt im Haftkrankenhaus Leipzig-Meusdorf Dr. Jürgen Rogge flehentlich gebeten sich ihrer Tochter anzunehmen und alles zu tun, um Haftverschonung für sie zu erreichen. Nicht einmal eine Antwort haben sie erhalten.
Im Frühjahr 1991 kann sich Dr. Rogge nicht mehr an meine Frau erinnern. Erst nach Einsicht der Akten kann er den „Fall“ beurteilen. Der Psychiater: „Bevor Frau Kersten zu uns verlegt wurde, erhielt sie in Hoheneck sehr hohe Dosen an schweren Psychopharmaka, die dreifache Menge dessen, was in akuten Erregungszuständen üblich ist. Sie hat sich schnell erholt“. Einen Antrag auf Haftverschonung hätte er nicht begründen können. Sie war gesund. Sie musste zurück nach Hoheneck. Die Schuld trifft die Justiz.

Eine gebrochene Frau

Mitte November 1988 kommen meine Frau und ich in die Abschiebehaft der Stasi nach Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz). Wir sind von Bonn freigekauft worden. Ich darf ohne Aufsicht mit meiner Frau sprechen. Sie ist weggetreten und klagt immer nur: „Ich habe mein Land verraten. Ich habe alles falsch gemacht. Ich komme nicht rüber, die Kinder werde ich nie wiedersehen“. Meine beruhigenden Worte erreichen sie nicht. Ich wiederhole was die Stasi versprochen hat: „Jessica und Mandy werden vor Weihnachten wieder bei uns sein.“
Am 25. November 1988 werden wir noch mit acht anderen Häftlingen von zwei Stasi-Offizieren zum Bahnhof begleitet. Morgens um halb sieben setzt sich der Zug Richtung Gießen in Bewegung. „Wir fahren ohne die Kinder, ich kann mich noch gar nicht so richtig freuen „, sagt meine Frau. Im baden-württembergischen Kirchentellinsfurt kommen wir in einem Hotel unter, das Verwandten gehört. Unterdessen kümmert sich meine Mutter in Stendal um die Papiere der Kinder. Meine Mutter will die Kinder in ihre neue Heimat begleiten. Meine Frau muss sich in ärztliche Behandlung begeben, Dr. Braun diagnostiziert eine schwere reaktive Depression. Es gibt nur ein Heilmittel, dass schnelle Wiedersehen mit den Kindern. Meine Frau erzählt mir, dass sie vergebens darum gebeten hat, in eine andere Zelle verlegt zu werden. Aus Protest zerschlug sie einen Spiegel und wurde deshalb in eine Arrest-Zelle im Keller gesperrt und ans Bett gefesselt. Mit Spritzen und Tabletten wurde ihr Widerstand gebrochen.
Jeden Tag telefoniere ich mit meiner Mutter in Stendal. Dann die erlösende Auskunft: Am 18. oder 19. Dezember 1988 gehe es los. Die Kinder säßen schon aufgeregt auf ihren Koffern. Wieder ein Anruf, die Papiere der Kinder seien noch nicht fertig. Die Behörden versicherten, dass es endgültig am 21. Dezember klappe. Am späten Vormittag des 21. Dezember trifft aus Stendal ein Telegramm ein: Die Anreise am 21.12. nicht möglich, da Papiere noch nicht vollständig. Weihnachten ohne die Kinder. Meine Frau wird immer stiller. Ich versuche sie zu trösten, kann aber wenig helfen. Wir machen einen langen Spaziergang. Am Abend bemüht sich meine Frau ein festliches Essen zuzubereiten. Es ist gegen 22 Uhr, als sie sagt: „Ich gehe mal eben hoch.“ Zehn Minuten später will ich nach ihr sehen. Meine Frau ist aus dem Fenster im dritten Stock gesprungen. Sie ist
sofort tot.“

Quelle: http://www.mdr.de/damals-in-der-ddr/ihre-geschichte/1542256.html

Solche Fälle in unserem aktuellen Staat geächteter und in breiter Weise als Unrecht erkannte Instrumentalisierung von Methoden der Psychiatrie veranschaulichen welche Folgen diese für Menschen haben können, die nicht nach heutigen Maßstäben psychisch auffällig wurden oder zu unfreiwilligen Minderheiten zählten. Diese Folgen sind jedoch gleichermaßen vorhanden bei solchen auch heute noch geringgeschätzten und oft weniger gewissenhaft behandelten Personengruppen.

Übersicht zu freiheitsentziehenden Maßnahmen:

Zitat:

Beispiele für freiheitsentziehende Maßnahmen sind:

  • Anlegen von Hand- bzw. Fußfixierungen
  • Anlegen von Bauchgurten, wenn keine Möglichkeit für den Pflegebedürftigen besteht, diese selbst zu lösen oder lösen zu lassen
  • Fixieren von Pflegehemden
  • Aufstellen von Bettgittern
  • Sicherheitsgurt am Stuhl, wenn keine Möglichkeit für den Pflegebedürftigen besteht, diese selbst zu lösen oder lösen zu lassen
  • Ausübung psychischen Drucks
  • Wegnahme von Schuhen und Kleidung
  • Psychopharmakagabe ohne oder gegen den Willen des Pflegebedürftigen.

[…]
Zustimmung des Pflegebedürftigen zu einer freiheitsentziehenden Maßnahme
Eine freiheitsentziehende Maßnahme ist nicht widerrechtlich, wenn der Pflegebedürftige in die Maßnahme wirksam eingewilligt hat. Ein Pflegebedürftiger kann nur wirksam einwilligen, wenn er über den maßgeblichen natürlichen Willen verfügt und einsichtsfähig ist. Dabei kommt es nicht auf die Geschäftsfähigkeit, sondern auf die natürliche Einsicht- und Urteilsfähigkeit des Pflegebedürftigen an. Der Pflegebedürftige muss die Bedeutung und Tragweite seiner Entscheidung erkennen können. Die Einwilligung bezieht sich jeweils auf die konkrete Situation. Der Pflegebedürftige kann die Einwilligung jederzeit widerrufen. Verliert der Pflegebedürftige infolge einer Erkrankung die natürliche Einsichtsfähigkeit, ist auch seine vorher gegebene
Einwilligung nicht mehr wirksam.
Die wirksame Einwilligung des Pflegebedürftigen sollte in der Pflegedokumentation festgehalten werden. In Zweifelsfällen kann es ratsam sein, vom behandelnden Arzt in regelmäßigen Zeitabständen die Einsichts- und Urteilsfähigkeit schriftlich bestätigen zu lassen.

Rechtfertigender Notstand

Freiheitsentziehende Maßnahmen können ausnahmsweise und für kurze Zeit unter den Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 Strafgesetzbuch) zulässig sein, wenn keine Einwilligung zu erzielen ist. Dies trifft dann zu, wenn der Pflegebedürftige in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Körper, Freiheit oder Eigentum sich oder andere gefährdet. Ziel ist es dabei, die Gefahr von sich oder anderen abzuwenden. Dabei muss bei Abwägung der widerstreitenden Interessen das geschützte Interesse das Beeinträchtigte wesentlich überwiegen. Als Höchstgrenze einer Fixierung ohne richterliche Genehmigung ist die Frist nach § 128 Strafprozessordnung anzusehen, danach ist die richterliche Entscheidung spätestens am Tag nach dem Beginn der freiheitsentziehenden Maßnahme herbeizuführen.“

Quelle: http://www.mdk.de/media/pdf/Anleitung_amb_10112005.pdf

Psychopharmakagabe kann eine freiheitsentziehende Maßnahme sein, also auch Freiheitsberaubung. Auch Angehörige können sich theoretisch strafbar machen und sich der Gefahr von Freiheitsstrafen aussetzen, wenn sie derartige Maßnahmen bei Autisten mittragen. Gerichte urteilen hierbei unterschiedlich. In vielen Fällen kommt es jedoch praktisch zu keiner juristischen Aufarbeitung, weil die jeweiligen Autisten unterschwellig und unausgesprochen allgemein oft als vogelfrei und minderwertiges Leben betrachtet werden und die Eigenvertretung auch in gerade den nicht seltenen Fällen von unverantwortlicher und dauerhaft schlechte nicht barrierefreie Lebensbedingungen verdeckender Vergabe von Arzneien durch ebendiese von Kindheit an beeinträchtigt wird. Zudem verstärken die oft erheblichen Nebenwirkungen das Bild einer Person, die „bematscht“ ist, was dann jedoch oft wieder als Beleg für die davon unabhängige Verfasstheit einer Person betrachtet wird.

Zur weiteren Veranschaulichung ein Beispiel: Eine alte Person, die man zuhause bis ans Lebensende in ein Zimmer einsperrt kann ebenso schlecht eine Strafverfolgung in eigenem Interesse einleiten.

Auszüge aus der EU-Charta für autistische Menschen:

Zitat:

    „16. Das Recht autistischer Menschen auf ein Leben in Freiheit ohne Furcht und ohne Bedrohung durch eine Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik oder eine andere geschlossene Anstalt.

[…]

    18. Das Recht autistischer Menschen auf ein Leben ohne missbräuchlichen Einsatz von Medikamenten.“

Quelle: http://auties.net/charta

Kurzer Anriß leider noch immer aktueller Zustände:

Zitat:

„Spätestens seit den 1968er Jahren gibt es auch in der Bundesrepublik so etwas wie eine Behinderten-Emanzipations-Bewegung: Einmal nehmen seither die Behinderten ihr Leben und die Vertretung ihrer politischen Interessen immer mehr in die eigene Hand; und zum anderen haben die Verantwortlichen für die Institutionen für Behinderte und Pflegebedürftige (also für Heime, Anstalten und Großkran-kenhäuser) mit der Deinstitutionalisierung begonnen, was sich in Verkleinerung, Dezentralisierung, Regionalisierung und teilweise auch Ambulantisierung ihrer Einrichtungen ausdrückt. Diese Feststellung ist wichtig; denn sie besagt, dass wir, auch die Institutions-Verantwortlichen (von den Heimleitern über die Wohlfahrtsverbände bis zu den Sozialministern) längst mit dem Prozess der Deinstitutionalisierung begonnen haben. Allerdings tun sie dies bisher nur halbherzig, nur so, dass es ihren gesund-egoistischen Interessen nicht weh tut, dass kein Heim in seiner Existenz bedroht ist, dass sie ihre Schmerzgrenze nicht überschreiten. Wenn ich also bei meinen zahlreichen Heim-Beratungen sehe, dass 20 % oder 40 % der Bewohner auf der Stelle in eine eigene Wohnung mit ambulanter Betreuung ziehen können und dass die Behinderung eines solchen Umzugs Freiheitsberaubung und Geiselnahme bedeutet, den Rechtsstaat verhöhnt, so gibt mir der jeweilige Heimleiter in der Regel zwar nicht öffentlich, wohl aber unter vier Augen sofort Recht. Nicht ohne hinzuzufügen: „Aber was soll ich denn machen, gehe ich mit der Belegung um 20 % herunter, ohne wieder aufzufüllen, kann ich Konkurs anmelden; damit alleingelassen, kriege ich das nicht hin.“ Und so muss man sich nicht wundern, dass trotz der gleichzeitig fortschreitenden Deinstitutionalisierung die Verheimung von Menschen weiter zunimmt, und zwar nicht nur der Pflegebedürftigen und Altersdementen (das wäre ja demographisch verständlich), sondern auch der Behinderten, was nach dem Bedarf völlig absurd ist. Dies bleibt aber zumindest so lange so, wie jeder clevere Unternehmer, wenn er nur ein paar formale Kriterien erfüllt, sich auf dem Markt des Heimwesens nach Belieben bedienen kann
und für den Bedarf selber sorgt – Rechtsstaat hin oder her.[…]

Vergabe von Psychopharmaka in Heimen

Auf der einen Seite, und dies wäre einen eigenen Vortrag wert, ist es der Einsatz von Psychopharmaka. Ich erinnere mich schon lange nicht mehr an einen Heimbewohner, der diese Medikamente nicht erhalten würde. Dabei leiden sie zumeist nicht unter akuten psychotischen Störungen oder depressiven Symptombildungen, die einer Behandlung bedürften oder der Notwendigkeit einer gezielten Rezidivprophylaxe. Psychopharmaka in Heimen werden – dies ist jetzt eine verkürzte Darstellung – weitgehend eingesetzt zum Zwecke der Verhaltensmodifikation. Die Bewohner sind in der Enge des Heimes leichter handhabbar, bereiten geringere Schwierigkeiten und lehnen sich weniger gegen die Unterbringung auf. Dies ist eine Problematik, sicher nicht exklusiv für psychisch Kranke in Heimen, sondern sie trifft nach meinem Kenntnisstand – und hierüber gibt es einige Literatur – auch für andere Heimformen zu.

Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Arbeit von Frau Wilhelm-Gößling aus Hannover über Neuroleptika in Pflegeheimen. Offensichtlich ist es schwer, in Heimen ohne exzessive Gaben von Psychopharmaka auszukommen. Dabei ist eine freie Arztwahl in der Regel eine Fiktion. In fast allen Einrichtungen gibt es enge Kooperationen zwischen Heim und psychiatrischen Kliniken bzw. dort tätigen Ärztinnen und Ärzten. In einem mir bekannten Heim wird die Arztwahl völlig aufgehoben, weil das Heim eigene Ärzte angestellt hat. Bereits in der Heimordnung wird der Zwang zur psychiatrischen Behandlung, das heißt auch zur Medikation festgeschrieben. Wenn ich die Klagen von Heimbewohnern, die mir im Laufe der Jahre zu Ohren gekommen sind, gewichten sollte, dann hielte ich diesen Aspekt der Zwangs- oder Beinahe-Zwangsmedikation für einen ganz zentralen.“

Quelle: http://www.behindertenbeauftragter-niedersachsen.de/broschueren_bblni/pi…

Vergleichbar verantwortungs- und gedankenlos werden gerade frühdiagnostizierte Autisten dauerhaft mit Arzneien „versorgt“. Auch nur die Zeit genauer nachzudenken „haben“ Ärzte oft nicht. Solche Verschreibungen sind einfach, die realen Problemfelder im Lebensumfeld von Autisten auszumachen hingegen für NA wohl überhaupt nur teilweise möglich. Alle Personen im Umfeld von Autisten sollten daher stets wachsam bleiben und sich Rat bei anderen Autisten holen, z.B. in unseren Foren. Das sollte nicht nur immer erst passieren, wenn „die Hütte brennt“. Wenn das der Fall ist sind oft schon derartig viele Dinge schiefgegangen, daß sich die Situation nur schwer und mit großer Ausdauer für alle Beteiligten (auch die um Rat ersuchten Autisten) halbwegs entwirren läßt. Zudem ist es nie gut für die Autisten und deren Vertrauen in ihr Umfeld, wenn man es überhaupt so weit kommen läßt.

Allgemeiner Tipp: Sittenwidrigkeit von Verträgen

Volljährige Menschen sind entweder voll geschäftsfähig oder stehen auf gerichtlichen Beschluß hin in Bereichen ihrer Entscheidungen unter Betreuung, wobei der Betreuer nach neuem Recht lediglich eine Art Kontrollinstanz darstellt.

Rechtlich geschäftsfähige Autisten sind jedoch wie alle Bürger nicht an jeden Vertrag gebunden, welchen sie aus Gutgläubigkeit unterschrieben haben. Im letzten Jahrzehnt hat sich nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes die praktische juristische Bedeutung des Begriffs der Sittenwidrigkeit verändert. Dies kommt auch vielen Nichtautisten zugute, welche z.B. wie im unten zitierten Beispiel wegen persönlichen Beziehungen unkritisch Bürgschaften für Kredite anderer übernommen hatten. Dies beschränkt sich jedoch nicht auf Bürgschafts- oder Kreditverträge.

Zitat aus einem beispielhaften Urteil des OLG Celle; Az. 3 W 119/05:

Zitat:

„Soweit das Landgericht im angefochtenen Beschluss Privatautonomie und Vertragsfreiheit und damit den Umstand, dass es der unbeschränkt geschäftsfähigen Person unbenommen bleiben müsse, auch risikoreiche Geschäfte abzuschließen und sich zu Leistungen zu verpflichten, die sie schlechthin überfordern oder die von ihr nur unter besonders günstigen Bedingungen erbracht werden können, betont, so bestehen insoweit bereits Bedenken. Die Rechtsprechung besonders des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, der auch bei wirtschaftlich unsinnigen Bürgschaften naher Angehöriger die Privatautonomie betonte und eine Sittenwidrigkeit regelmäßig ablehnte (vgl. BGH, WM 1991, 1154, 1157), ist nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1993 (NJW 1994, 36) jedenfalls in weiten Teilen als überholt anzusehen; der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts seine frühere Auffassung aufgegeben (WM 1994, 680, 682). Dass die Betonung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie in anderen Bereichen, etwa bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit eines Darlehensvertrages wegen krasser finanzieller Überforderung eines echten Mitdarlehensnehmers weiterhin Geltung beanspruchen kann, steht einer abweichenden Beurteilung bei Bürgschaftsverträgen nicht entgegen.Bei Austauschverträgen hängt die Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB wesentlich vom Ausmaß des Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung ab. Bei einseitig verpflichtenden Verträgen, insbesondere bei Bürgschaftsverträgen, bei denen eine Anwendung des § 138 Abs. 2 BGB schon deswegen ausscheidet, weil es an einem Leistungsaustausch fehlt, tritt im Zusammenhang mit der Prüfung der Sittenwidrigkeit an die Stelle des auffälligen Missverhältnisses von Leistung und Gegenleistung die Frage nach dem krassen Missverhältnis zwischen dem Verpflichtungsumfang einerseits und der Leistungsfähigkeit des dem Hauptschuldner nahe stehenden Bürgen andererseits. Ein solches Missverhältnis begründet, wenn der Bürge dem Hauptschuldner aufgrund einer Ehe oder einer vergleichbaren engen Beziehung emotional verbunden ist und sich deshalb bei einer Bürgschaftsübernahme erfahrungsgemäß häufig nicht von einer rationalen Einschätzung des wirtschaftlichen Risikos leiten lässt, bei geschäftsungewandten ebenso wie bei geschäftsgewandten Personen ohne Hinzutreten weiterer Umstände die widerlegliche (§ 292 ZPO) tatsächliche Vermutung, dass das Kreditinstitut die emotionale Beziehung zwischen dem Bürgen und dem Hauptschuldner in sittlich anstößiger Weise ausgenutzt hat.

[…]

Die widerlegliche Vermutung für die subjektiven Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit setzt eine krasse finanzielle Überforderung des dem Hauptschuldner emotional verbundenen Bürgen voraus. Zur Beantwortung der Frage, ob eine krasse finanzielle Überforderung vorliegt, kommt es auf den maximalen Umfang der übernommenen Verpflichtung an, die (voraussichtliche) finanzielle Leistungsfähigkeit bzw. unfähigkeit des Bürgen sowie auf das Vorliegen anderweitiger Sicherheiten des Kreditgebers, falls diese Sicherheiten geeignet sind, das Haftungsrisiko des Bürgen tatsächlich zu begrenzen.

Hinsichtlich des ersten Aspektes ist zwar hervorzuheben, dass die Beklagte nur bis zum Betrag von 20.000 DM haftet. Daraus ergeben sich aber, wie auch von der Klägerin nicht in Zweifel gezogen worden ist (Schriftsatz vom 18. Juli 2005), insoweit monatliche Zinsbelastungen in Höhe von 191,67 DM. Unter Zugrundelegung eines monatlichen Nettoeinkommens von – unbestritten – 1.243 DM ergibt sich entgegen der Auffassung der Klägerin kein monatlicher pfändbarer Betrag in Höhe von 340,20 DM. Zu berücksichtigen ist vielmehr, dass die Beklagte ihrem 1990 geborenen Kind unterhaltspflichtig war und ist, sodass sich der pfändbare Betrag auf 74 DM und damit auf einen Betrag unterhalb der anfallenden Zinsen reduziert. Ist vor Übernahme der Haftung mithin davon auszugehen, dass die Beklagte mit Hilfe des pfändbaren Teils ihres Vermögens und Einkommens bei Eintritt des Sicherungsfalles voraussichtlich nicht einmal in der Lage sein würde, die auf die Bürgschaftsforderung entfallenden laufenden Zinsen auf Dauer aufzubringen, so war die Bürgschaftsverpflichtung wirtschaftlich unvernünftig und unsinnig.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts sind die Unterhaltspflichten auch zu berücksichtigen.

[…]

Der Bundesgerichtshof hat wiederholt deutlich gemacht, dass seine Grundsätze zur Sittenwidrigkeit von Bürgschaften naher Angehöriger bereits „bei nicht ganz geringen Bankschulden“ Geltung beanspruchen (vgl. z. B. BGH, WM 2003, 2379, 2380, unter II. 1.). Der Senat sieht keine Veranlassung, den Versuch zu unternehmen, eine allgemeine Grenze insoweit zu bestimmen. Jedenfalls dann, wenn der Bürge nur über relativ geringfügige Einkünfte verfügt, ist auch eine Schuld von 20.000 DM in dem genannten Sinne als nicht ganz gering anzusehen.“

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