Neben den Fragen, die sich unmittelbar aus den veröffentlichten Gründen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts selbst ergeben, wirft die Entscheidung auch gewichtige Fragen auf, die nur in Kenntnis vorangegangener Instanzeninhalte erkennbar werden. Dieser Artikel will zu solchen Fragen einen allgemeinen Überblick bieten ohne intensiv und umfassend zu analysieren. Er bietet so gesehen einen zweiten groben Einblick in ein Verfahren mit vielen großen Fragezeichen, das in erschreckend weiten Teilen von uns auch nur schwer als rechtsstaatlich korrekt verhandelt eingeordnet werden kann. Hierbei handelt es sich zunächst offenbleibend um einen „ersten Teil“ dieser Thematik. Nutzt gerne die Kommentarfunktion dieses Artikels, um eure Gedanken mit uns zu diskutieren.
1.
Ein wesentlicher Punkt der Entscheidung ist der Verweis auf die Möglichkeit einen Bevollmächtigten zu beauftragen. Was das Bundesverfassungsgericht in seinen Gründen nicht erwähnt: In den Vorinstanzen war unter anderem auch seitenlang thematisiert worden, daß es für den Kläger sehr schwierig bis unmöglich ist einen Anwalt zu finden, der seinerseits bereit ist mit ihm in angemessener Weise und angemessenem Umfang barrierefrei zu kommunizieren. Zur Zeit der fraglichen mündlichen Verhandlung war er nicht anwaltlich vertreten. Gegenüber dem Bundessozialgericht wurden vielfache Absagen von Anwälten beispielhaft umfassend dokumentiert.
Was sagt das über die Entscheidung aus? Hat das Bundesverfassungsgericht die bei ihm eingereichten Unterlagen sorgfältig geprüft? Wenn wir davon ausgehen wollen: Verweist das Bundesverfassungsgericht also einen Autisten auf eine Möglichkeit, die er tatsächlich dargelegterweise gar nicht hat? Fragen über Fragen. Entscheidungen aller Instanzen waren auch zuvor davon gekennzeichnet, daß Gerichte in ihren Entscheidungen derartig zweifelhafte Überlegungen anstellten meist ohne diese vorher mit dem Kläger zu „besprechen“, ohne ihm Gelegenheit zu geben diese Überlegungen sachlich zu kommentieren, auf eventuell vorhandene Schwächen hinzuweisen. Soetwas würde sonst wohl oft in einer mündlichen Verhandlung möglich sein.
Wie kann in so einer Entscheidung also die in diesem Fall sehr naheliegende Möglichkeit vernachlässigt werden, daß ein Autist keine Person kennt, die sie als Vertretung beauftragen könnte? Geschweige denn eine Person, der sie wenigstens ansatzweise zutraut so einer Aufgabe in gewünschter Weise und zuverlässig nachzukommen? Welcher Nichtautist versteht Autismus so gut wie Autisten, die vergleichbare Barrieren aus ihrem Alltag kennen? In diesem Verfahren ging es auch noch direkt inhaltlich um genau dieses Thema. Welcher Nichtautist nimmt Autisten menschlich wirklich ernst? Nur wenige wirklich. Und was macht es mit den wenigen vielleicht vorhandenen Bekanntschaften, wenn diese Kontakte in solche Probleme hineingezogen werden? Wenn es Probleme gibt verschwinden die meisten Menschen. Soll ein Behinderte sich entscheiden müssen, ob er wenige vorhandene soziale Kontakte auch noch riskiert, um vielleicht seine Rechte gegen verbreitet vorkommende Widerstände, Entrechtungen im Alltag durchsetzen zu können? Reicht es dem Bundesverfassungsgericht die rein theoretische Möglichkeit als eine Art von Fiktion vorauszusetzen? Ganz davon abgesehen, daß inzwischen sonst eigentlich allgemein anerkannt wird, daß es sehr problematisch ist Behinderte darauf zu verweisen, sich von anderen Personen vertreten zu lassen? Daß das z.B. riesige Abhängigkeitsproblematiken mit sich bringt, Mißbrauch – und in diesem Fall erheblich verminderte Möglichkeiten des Zugangs zur Justiz an sich?
2.
Ebenfalls ein zentraler Punkt der Entscheidung dürfte die Frage der „Unmittelbarkeit“ sein. Weder Blinde noch Gehörlose stehen vor einer Zugangsproblematik ähnlich der im vorliegenden Verfahren. Blinde können in einer mündlichen Verhandlung normal reden. Sie benötigen barrierefreie Zuarbeit, sind aber von der Situation im Gerichtssaal nicht an sich überfordert. Gehörlose sollten z.B. mit einem „Übersetzer“ in ähnlicher Weise klarkommen. Für manche Autisten ist die Situation im Gerichtssaal jedoch selbst erheblich barrierehaltig. Im vorliegenden Fall wurde diese Ausgangslage sinnentsprechend auch vom Gutachter bestätigt, den das Landessozialgericht selbst beauftragt hatte:
„Aufgrund der Funktionsstörungen, die sich im Rahmen der Autismusspektrumsstörung ergeben ist der Proband auch ständig an der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen gehindert. Menschenansammlungen bedeuten für den Probanden eine massive Stressituation, er entwickelt dann eine Denkhemmung.“
Im weiteren Verlauf des Verfahrens wurde an diesen Umstand auch wiederholt weiter erläuternd erinnert. Übersehen worden sollte diese Tatsache daher eher nicht sein.
Es stellt sich also an dieser Stelle ganz allgemein die Frage, ob ein Staat das Recht haben soll alternativlos auf Verfahrensgewohnheiten zu bestehen, die für eine durch Strukturen allgemeiner Behindertenverbände noch immer marginalisierten Gruppe Behinderter schlichtweg unzugänglich sind.
In seiner Entscheidung konstruiert das Bundesverfassungsgericht einen vermeintlich riesigen Aufwand, den es für ein Gericht angeblich bedeuten würde in einem anderen Zeittakt zu verhandeln als sonst üblich. Oder geht es vielleicht auch um Bedenken der Kontaktaufnahme mit diesem sagenumwobenen „Neuland“, das es irgendwo da draußen ja geben soll und das inzwischen Milliarden von Menschen seltsamerweise auch regelmäßig zur Kommunikation mit Privatkontakten benutzen?
Selbst wenn man annehmen würde abgesehen von Gewohnheit würde hier noch ein anderes Kritierium eine bedeutende Rolle spielen: Die Zahl der Verfahren, die ein Gericht in dieser Weise führen müßte, wäre vermutlich recht überschaubar.
Wozu also eine solch intensive Einschränkung des unmittelbaren Zugangs zur deutschen Justiz? Wie kann sie unter diesen Umständen auch nur ansatzweise als angemessen betrachtet werden? Was ist das für eine Abwägung? Kann es angehen, daß formale Prinzipien des GG gegen Barrierefreiheit aufgewogen werden? Ein formales Kriterium sticht Menschenrecht aus?