Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, ob ein Recht auf ein starr so verstandenes „rechtsstaatliches Verfahren“ nicht eher das Recht eines Klägers sein sollte, hingegen das Recht auf Barrierefreiheit ein Recht auch gegenüber der Justiz und dem Staat, der in diesem konkreten Verfahren sozusagen auch Prozeßgegner war.
Der heutige deutsche Unmittelbarkeitsgrundsatz steht in Beziehung zum ebenfalls auf Autisten schon seit langer Zeit negativ diskriminierend wirkenden, historisch gesehen so keinesweg selbstverständlichen Prinzip der Mündlichkeit in Gerichtsverfahren.
„Im deutschen Recht ist das Unmittelbarkeitsprinzip für den Zivilprozess in den § 128, § 309 und § 355 ZPO, für den Verwaltungsprozess in den § 96 und § 101 VwGO und für die Strafprozesse in den § 244, § 250 und § 261 StPO kodifiziert.
Der Grundsatz gilt für gerichtliche Verhandlungen und bedeutet, dass die Verhandlung in unmittelbarem, direktem Kontakt des Gerichtes zu den Prozessparteien und Prozessbeteiligten (Mündlichkeitsgrundsatz) an einem vom Gericht bestimmten Ort (dies muss nicht der Sitz des Gerichtes sein) oder mit Hilfe eines durch technische Hilfsmittel vermittelten unmittelbaren visuellen Kontakts (Zuschaltung zu einer elektronischen Konferenz) erfolgt. Eine bloß fernmündliche Verhandlung (Telefonkonferenz) ist nicht ausreichend.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Unmittelbarkeitsprinzip
„Während im preußischen Aktenprozess der Schriftlichkeitsgrundsatz herrschte und nur Schriftliches zur Urteilsfindung berücksichtigt werden durfte (quod non legitur, non creditur beziehungsweise quod non est in actis, non est in mundo), wurde unter dem Einfluss des napoleonischen Code de procédure civile von 1806 mit Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze 1879 die Gerichtsverhandlung in mündlicher Form, also durch den mündlichen Vortrag der Beteiligten vor dem erkennenden Gericht, eingeführt. 1924 wurde im Rahmen der sog. Emminger-Novellen die Bezugnahme auf Anträge und Schriftsätze möglich.
Die meisten Verfahrensordnungen schreiben den Mündlichkeitsgrundsatz ausdrücklich vor, so etwa § 128 Abs. 1 ZPO, § 33 Abs. 1 StPO oder § 101 Abs. 1 VwGO. Dies entspricht der Vorgabe des Art. 6 Abs. 1 EMRK.“
http:// https://de.wikipedia.org/wiki/Mündlichkeitsgrundsatz
An dieser Stelle sollte auch darauf hingewiesen werden, daß die Formulierung „Sein Begehren, die mündliche Verhandlung barrierefrei so durchzuführen“ in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht falsch ist, jedoch zugleich ziemlich mißverstanden werden kann.
Der autistische Kläger hatte im vorliegenden Verfahren einen solchen konstruktiven Vorschlag gemacht und dargelegt, wieso die Vorstellungen des Landessozialgerichts zur Barrierefreiheit der mündlichen Verhandlung nicht geeignet waren. Er hatte das jedoch ausdrücklich ergebnisoffen getan und das Gericht zu einer weiteren Auseinandersetzung über die Ausgestaltung aufgefordert. Das Gericht kam dem jedoch nicht in entsprechender Weise nach und legte sich darauf fest auf nicht barrierefreie Art zu verhandeln, insbesondere zu verlangen, daß der Kläger im Rahmen einer Teilnahme an der mündlichen Verhandlung in den Gerichtssaal kommen soll.
Ergänzend sei hier noch aus einem klägerischen Schriftsatz zitiert:
„Autisten können z.B. von unerwarteten Situationen (auch wenn das für Nichtautisten sachlich nicht nachvollziehbar wäre) so überfordert sein, daß es ihnen nicht möglich ist zeitnah darüber nachzudenken, bevor die innere Ordnung ersteinmal wieder grundlegender wiederhergestellt wurde. Somit sind Autisten manchmal oder in so einer Gerichtssituation auch ziemlich oft unfähig sich einzubringen, wenn die Situation nur in einem eng begrenzten Terminzeitraum behandelt würde, statt zeitentzerrt über einen angemessenen Zeitraum je nach Sachverhalt von wohl mindestens zwei Wochen.
Ein Beispiel das diese Thematik berührt:
„Dana
Not having enough time to process information can feel very confusing for an autistic person. In my case, I’ve always compared it to a computer crashing.
That’s what it can feel like when I don’t get the time to process all the information given to me! But, when I have all the appropriate things in place to help me process that information, my mind can understand everything. It helps me to have all the information given in a step-by-step fashion, whilst still being full of details I can easily understand!
However, there are some days where I don’t get this extra time to process information and this can affect me a lot, physically and mentally. While I’ve had a fair share of understanding, I’ve also had a fair share of ignorance. When people haven’t given me enough time to process information, it can lead to me feeling anxious as well as confused due to not understanding what’s going on and, in the worse-case scenario, I can have a meltdown.“
http://www.autism.org.uk/get-involved/tmi/stories/processing.aspx
„In less extreme cases, to process something takes seconds or minutes. Sometimes it takes days, weeks or months. In the most extreme cases, it can take years to process what has been said. The words, phrases, sentences, sometimes the whole situations are stored and they can be triggered at any time. You must be a detective to connect the child’s ‘announcement’ with the question he/she was asked a week before.“
http://integratedtreatmentservices.co.uk/blog/delayed-processing-in-autism
[…]
„The world can be an unpredictable, confusing place for autistic people, and that makes a set routine crucial for getting by. So when something unexpected still happens, it can feel like the whole world is spinning out of control.“
http://www.autism.org.uk/get-involved/tmi/top-tips.aspx
„An autistic person’s ability to understand or use spoken language can vary depending on their anxiety or stress
levels. For example, someone who is normally able to communicate well may have reduced ability due to underlying anxiety or sensory needs.“
http://www.autism.org.uk/about/communication/communicating.aspx
„Individuals with ASD may take a long time to digest information before answering, so do not move on to another question too quickly. […] Do not expect an immediate response to questions or instructions, as the person with ASD may need time to process them.“
http://www.autismwestmidlands.org.uk/upload/pdf_files/1406643451_InformationSheets_CJS_Web.pdf“
Das ist bei einer solchen Thematik auch bei rein schriftlicher Kommunikation möglich, weswegen Zeitentzerrtheit ein Faktor der Forderung nach erforderlicher Barrierefreiheit war. Diese würde auch den anderen Prozessbeteiligten ermöglichen zu antworten, wenn sie gerade keine anderen Verpflichtungen wahrnehmen.