Frisch aus der Druckpresse: BvR 957/18 vom 27.11.2018 (wurde erst diese Woche zugestellt). Wir haben uns in diesem Fall entschieden zunächst hier nur den Inhalt der fragwürdigen Entscheidung zu veröffentlichen und die Einordnung dieses auch formal sehr komplex gewordenen Verfahrens später gesondert vorzunehmen. Macht euch ruhig ersteinmal eure eigenen Gedanken dazu.
Update vom 11.11.2022:
- Gegen diese aus unserer Sicht in der Sache deutlich verfehlte Entscheidung des BVerfG wurde ein Verfahren beim UN-CRPD-Ausschuß eingereicht, das Verfahren wurde auch zur Entscheidung angenommen. Aufgrund von Arbeitsüberlastung des CRPD-Ausschußes dauern solche Verfahren derzeit aber leider in der Regel Jahre.
- Bemerkenswert ist an dieser Stelle soweit, daß im schriftlichen Vorverfahren vor dem UN-CRPD-Ausschuß die Bundesrepublik Deutschland (ja, so steht es dort) gegenüber dem Ausschuß in einem Schriftsatz angab: „The arrangement requested by the petitioner – consisting of oral proceedings with the judges and the defendant’s representatives physically present in a court room while the petitioner would not be physically present and instead would take part in an online chat arrangement over an extended period of time – does not give the petitioner any advantage over written proceedings.“ Es ist für uns unerklärlich, wie Deutschland zum BVerfG-Verfahren soetwas behaupten kann. Im Verfahren wurde nie gefordert, die Richter etc. sollten während der zeitentzerrten fernschriftlichen Kommunikation körperlich quasi wochenlang im Gerichtssaal campieren. Wir sehen nicht, wie aus der Akte soetwas gefolgert werden könnte. Es ging um eine barrierefreie fernschriftlich-zeitentzerrte Art von Verhandlungsführung, bei der die Chance für flüssigere Kommunikationabläufe bestanden hätte. Und im fraglichen Verfahren mangelte es an diesem Element, weswegen viele Inhalte bei Urteilsverkündung eigentlich von klägerischer Seite noch nicht ausreichend besprochen worden waren, wie dem Gericht im Verfahren auch mitgeteilt worden war. Mögliche Erklärungsansätze für die oben zitierte Schriftsatzpassage: 1. Der dem BVerfG seinerzeit zuarbeitende Richter hatte die Verfassungsbeschwerde samt Akte gar nicht richtig gelesen und sich Dinge zusammengereimt, die im Verfahren so nicht vorkamen oder gefordert worden waren und das wurde dann inoffiziell weitergetragen. 2. Der Vertreter Deutschlands tat alleine etwas in der Art oder versuchte bewußt den CRPD-Ausschuß über dem Verfahren wirklich zugrundeliegende Fragen irrezuführen.
- Personen, die aus irgendwelchen Gründen nicht direkt bei der ESH nachfragen, verbreiten leider die Ansicht, die frühere BSG-Entscheidung sei vom BVerfG sinngemäß aufgehoben worden. Das ist klar falsch, denn in dieser BVerfG-Sache ging es lediglich um das Recht auf Barrierefreiheit von Autisten in deutschen Gerichtsverfahren. Die BSG-Entscheidung zum Recht von Autisten auf Barrierefreiheit bei Begutachtungen gilt weiter und ist z.B. für alle Verwaltungsverfahren in Deutschland sinngemäß auch unverändert maßgeblich, denn wenn im Rahmen einer Begutachtung ein solcher Anspruch besteht, dann erst recht in Verwaltungsverfahren und gegenüber Sachbearbeitern deutscher Behörden. Update Ende.
„Gründe:
[…]
1. Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen (vgl. BVerfGE 96, 288 <302 f.>; 99, 341 <357>; 128, 138 <156>).
Bei der Anwendung und Auslegung von verfahrensrechtlichen Vorschriften müssen die Gerichte danach der spezifischen Situation einer Partei mit Behinderung so Rechnung tragen, dass deren Teilhabemöglichkeit der einer nichtbehinderten Partei gleichberechtigt ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. Oktober 2014 – 1 BvR 856/13 -, juris, Rn. 6). Entsprechende Vorgaben enthält auch Art. 13 Abs. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention (United Nations Treaty Service, vol. 2515, p. 3), die in Deutschland Gesetzeskraft hat (Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21. Dezember 2008, BGBl II S. 1419) und als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann (vgl. BVerfGE 111, 307 <317 f.>, 128, 282 <306>).
2. Es begegnet nach diesen Maßstäben gleichwohl keinen Bedenken, dass das Landessozialgericht die Gestaltung der mündlichen Verhandlung nach den Vorstellungen des unter […] Autismus […] leidenden Beschwerdeführers abgelehnt hat. Sein Begehren, die mündliche Verhandlung barrierefrei so durchzuführen, dass er – ähnlich den Abläufen in einem Online-Forum – über längeren Zeitraum mittels Computer von zuhause aus kommunizieren kann, wird von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht getragen.
Es kann offenbleiben, ob der Vortrag des Beschwerdeführers betreffend die Folgen seiner Erkrankung in medizinischer Hinsicht tatsächlich zutrifft. Denn es steht ihm jedenfalls offen, sich im fachgerichtlichen Verfahren durch einen Bevollmächtigten vertreten zu lassen (§ 73 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG) beziehungsweise sich in der mündlichen Verhandlung eines Beistands zu bedienen (§ 73 Abs. 7 SGG). Eine Partei anstelle einer unmittelbaren Teilhabe am Verfahren auf eine Vermittlung durch Dritte zu verweisen, kann im Einzelfall den Anforderungen des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG genügen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. Oktober 2014 – 1 BvR 856/13 -, juris Rn. 7). So liegt es hier.
Zwar besteht grundsätzlich ein berechtigtes Interesse eines Verfahrensbeteiligten, an der mündlichen Verhandlung teilnehmen und ihr folgen zu können, selbst wenn dies mit einem besonderen organisatorischen Aufwand verbunden ist (vgl. für Personen mit Hör- oder Sprachbehinderung § 186 Gerichtsverfassungsgesetz – GVG – sowie für blinde oder sehbehinderte Personen § 191a GVG). Daneben haben Gerichte das Verfahren stets nach pflichtgemäßem Ermessen unter Beachtung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG so zu führen, dass den gesundheitlichen Belangen der Verfahrensbeteiligten Rechnung getragen wird (vgl. Roller, SGb 2016, S. 17 <21 f.>).
Diese Verpflichtung besteht aber nicht uneingeschränkt und umfasst nicht in jedem Fall den Anspruch der Verfahrensbeteiligten, dass die mündliche Verhandlung nach ihren Vorstellungen ausgestaltet wird. Ein rechtsstaatliches Verfahren verlangt grundsätzlich eine durch die mündliche Verhandlung geschaffene Transparenz und die Wahrung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes. Auch müssen die personellen Ressourcen der Justiz so eingesetzt werden, dass möglichst viele Verfahren einerseits zeitsparend, andererseits in einem rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Rahmen behandelt und entschieden werden. Hierbei kommt der Konzentrationsmaxime (vgl. § 106 Abs. 2 SGG) mit Blick auf die Verpflichtung des Staates, allen Rechtsschutzsuchenden in angemessener Zeit Rechtsschutz zu gewähren (Art. 19 Abs. 4 GG), ein besonderer Stellenwert zu. Die Ausgestaltung der mündlichen Verhandlung, wie sie vom Beschwerdeführer begehrt wird, setzte sich zu diesen ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestatteten Strukturprinzipien in Widerspruch.
Durch die Bestellung eines Bevollmächtigten beziehungsweise eines Beistands hätten im Ausgangsfall sowohl die Rechte des Beschwerdeführers als auch die dargestellten Prinzipien gewahrt werden und in einen schonenden Ausgleich gebracht werden können. Die mündliche Verhandlung kann durch einen Bevollmächtigten beziehungsweise Beistand gemeinsam mit dem Beschwerdeführer so vorbereitet werden, dass auf dessen gesundheitliche Beeinträchtigungen Rücksicht genommen werden wird und die Wahrnehmung seiner Rechte sowie die Berücksichtigung seines Vortrags gewährleistet ist. Das gilt umso mehr, als das Landessozialgericht dem Beschwerdeführer angeboten hat, ihm den der mündlichen Verhandlung zugrundeliegenden Sachbericht schriftlich vorab zu übersenden. Wäre es trotz dieser Verfahrensgestaltung zu einer Verhandlungssituation gekommen, die eine Stellungnahme des Beschwerdeführers unmittelbar erforderlich macht, hätte die mündliche Verhandlung vorübergehend unterbrochen und erforderlichenfalls vertagt werden können.“