Nach der Mitteilung von SAP 1% der Belegschaft mit Autisten besetzen zu wollen, rollte eine Welle von relativ breiter Medienaufmerksamkeit um den Globus. Die Zahl beeindruckte offenbar, auch wenn sie nach aktuellen Zahlen nicht einmal dem statistischen Anteil von Autisten an der Gesamtbevölkerung entspricht. Weit mehr im Hintergrund und in etlichen Artikeln ungenannt stand die Tatsache, daß SAP für dieses Projekt mit der Firma Specialisterne kooperiert, die bereits vor Jahren angekündigt hatte große Konzerne als Kooperationspartner gewinnen zu wollen.
Wir haben diese Firmen seit einigen Jahren im Blick und beobachten ihre Aktivität. Es ist durchaus glaubhaft, daß bei Specialisterne zumindest anfangs vor knapp zehn Jahren das Wohl von Autisten mit im Vordergrund stand. Der Gründer hat angeblich selbst einen autistischen Sohn. Ob es tatsächlich so war – wir wissen es nicht. Was wir wissen ist jedoch, daß in Deutschland hohe Zuschüsse bezahlt werden. Manche „Integrationsfirmen“ greifen diese Förderungen ab und sind nicht ernsthaft auf langfristige Perspektiven orientiert.
Besonders bemerkenswert ist, daß Autisten schon immer Teil des Erwerbslebens waren, gerade auch im IT-Bereich. Mit den neuen Generationen sind diese Autisten jedoch mittlerweile immer öfter mit einer entsprechenden Diagnose versehen und durch die soweit formaler organisiert meist mit menschenfreundlich wirken sollenden Ettiketten versehende vorzufindende brutale Exklusionsmentalität psychisch auch bereits in anderer Weise angegriffen, als es früher der Fall war. Diagnosen erweisen sich in der Realität immer wieder als Segen, aber auch als großer Fluch. Es ist das Dilemma in einer im Kern rücksichtslos diskriminierenden Gesellschaft Rücksicht zu fordern und dann wegen der dafür nötigen Erklärungen erst recht Freiwild zu werden. Dieses Problem soll das Universelle Design (Barrierefreiheit die man nicht mit Diagnosen einfordern muß, sondern die als selbstverständlich überall in die geplante Kulturlandschaft eingebaut wird) einmal lösen, in der Praxis spürt man davon hierzulande noch kaum etwas.
So schlittern wir also in eine auf dem Papier erlebbare Diversität dessen, was immer schon da war und auch mehr oder weniger funktionierte mit allen negativen Folgen. Specialisterne ist sicher keine klassische Behindertenwerkstatt, Zahlen von 2008 weisen Bruttogehälter um 3000€ für die Teilzeitstellen aus. Die Stellen werden also durchaus relativ ordentlich bezahlt und bringen diesen geldwerten Nutzen durch die Tätigkeiten der angestellten Autisten auch für die Firma ein.
Auffallend ist jedoch, daß aus unserer Sicht nur bedingt auf barrierefreie Arbeitsbedingungen geachtet wird. Mehr Telearbeit und Internetkommunikation wäre hier sehr sinnvoll. So sind die Umstände oft unnötig belastend für die beschäftigten Autisten. Desweiteren verbreiten diese Firmen teilweise falsche Darstellungen über die Natur von Autisten bis hin zum längst überholten medizinischen Behinderungsverständnis, das die sozialwissenschaftlich nachweisbaren Dimensionen eigentlich ursächlicher gesellschaftlicher Diskriminierung einfach ausblendet und somit weiter festigt.
Ebenfalls ein großer Mangel scheint in diesen Firmen noch die Mitbestimmung der autistischen Angestellten zu sein. Noch scheint eher eine Fremdherrschaft von Nichtautisten praktiziert zu werden, die zumindest teilweise den Eindruck hinterlassen die Autisten menschlich nicht für voll zu nehmen. Im Zusammenhang mit anderen Minderheiten würde man hier von gefestigtem Rassismus schreiben. Auch formal sind die Autisten offenbar nicht gleichrangig den Nichtautisten, die den Betrieb regulieren sollen („Pädagogische Berater“, Coaches, etc.) und offenbar in der Realität meistens der Geschäftsleitung beipflichten. Es sollte aber einen mächtigen Betriebsrat der Autisten geben, der das Tagesgeschehen genau verfolgt. Zu Zeiten vor der Verbreitung der Diagnosen war das anders und hat funktioniert. Teilweise scheinen die internen Abläufe unklar und zu unstrukturiert zu sein, Verantwortlichkeiten einerseits nicht gewährt, die Folgen der Fremdentscheidungen dann aber wieder den Autisten angekreidet zu werden. Ungerechtigkeit wirkt jedoch besonders auf Autisten demotivierend und sollte sorgfältig vermieden werden. Um diese Probleme erkennen zu können ist jedoch teils erst Kommunikation auf gleicher Augenhöhe die Voraussetzung. Es reicht nicht hin und wieder mal nach Kritik zu fragen.
Es sollte also nicht gehofft werden, daß diese Firmen nun alles besser machen. Letztenendes handelt es sich um gewöhnliche Unternehmen, die ihre besonderen Verheißungen gegenüber den autistischen Beschäftigten der Firma nicht unbedingt einlösen. Aber um die Gestaltungsmöglichkeiten mitsamt der Wertschöpfungskette direkter zu gestalten müßten Autisten wohl selbst aktiv werden, wie erstmals vor Jahren vorgeschlagen. Normalerweise führen schließlich die Leistungsträger eine junge Firma und nicht die Verwaltung.
Abseits solcher Projekte ist die Situation von Autisten auf dem „Arbeitsmarkt“ oft schwierig. Telearbeit ist für viele Autisten eine gute Lösung, auch hier scheuen sich noch immer viele Branchen und jammern gleichzeitig über angeblichen Fachkräftemangel. Die Bereitschaft für Barrierefreiheit zu sorgen ist in vielen Firmen bisher gering ausgeprägt. Es besteht vermutlich in den meisten Fällen ein grundlegendes Informationsdefizit verbunden mit den absurdesten Klischeevorstellungen von Autisten, die bis heute auch durch vielfach schlecht recherchierte Medienberichterstattung am Leben erhalten werden. Es gibt jedoch auch nicht wenige flexible Firmen, die seit Jahrzehnten durch ein gutes Betriebsklima auch ohne das Bemühen von Schubladen wie selbstverständlich das leben, was anderswo für unmöglich erklärt wird. Das sind die wirklich wertvollen Projekte – besonders deswegen, weil sie mittels ganz normalem menschlicher Umsicht passieren ohne, daß irgendjemand auch nur „Projekt“ sagt. Dennoch braucht die Öffentlichkeit dem Anschein nach auch Leuchttürme wie Specialisterne, die die pathologierend selektiv berichtenden Medien erreichen. Sehr viel hängt wie so oft von der Einstellung der beteiligten Personen ab. Geht man auf das Individuum ein, erledigen sich viele Probleme von selbst, die anderswo mit großem Aufwand gepflegt werden. Das setzt bei den beteiligten Nichtautisten jedoch auch eine gewisse menschliche Reife voraus, die meist leider vergeblich gesucht wird.