Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben, was auch die Bildung von eigenen Organisationen zur Vertretung der eigenen Belange in der Öffentlichkeit beinhaltet, ist ein Menschenrecht (http://www.ohchr.org/EN/UDHR/Pages/Language.aspx?LangID=ger), ebenso wie das Recht auf freie Meinungsäusserung und das Recht auf Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung. Die Menschenrechte gelten auch für Behinderte (http://www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf).
Für viele Gruppierungen von Behinderten hat sich diesbezüglich vieles zum Besseren gewandelt, sie werden in der Öffentlichkeit gehört, haben ihre eigenen Interessenvertretungen, die tatsächlich auch bei relevanten Entscheidungen Mitspracherechte haben und die Diskriminierungen nehmen ab. Für Autisten ist es noch ein weiter Weg bis dorthin.
Die vermeintlichen Interessen von Autisten werden weiterhin von eltern- und therapeutenbasierten Organisationen, wie z.B. Autismus Deutschland oder zunehmend auch von Elternverbänden, die viel klarere Vorstellungen darüber haben, welche „therapeutischen“ Ansätze für die Förderung von Autisten unabdingbar seien, wie z.B. ABA-Eltern, vertreten; tatsächlich handelt es sich jedoch weitestgehend um die Interessen der Eltern oder Therapeuten. Diese Elternorganisationen sind oft auch selbst an Therapie- und Forschungseinrichtungen beteiligt und haben stimmberechtigte Mitglieder aus diesen Bereichen. Sogar Regionalverbände von Autismus Deutschland werden zunehmend zu Verbänden, deren Ziele massgeblich von „Therapeuten“ und anderen wirtschaftlich an Autismus interessierten Personen vertreten werden. Somit haben sie also neben der oft vorzufindenden inhaltlichen Mehrheitsneigung solcher Gruppierungen durchaus oft auch ein eigenes wirtschaftliches Interesse, an einer bestimmten Form von Beratung – die meist zuungunsten der Autisten stattfindet – und beraten keineswegs so selbstlos, wie dies oft angenommen und behauptet wird.
Selbst bei reinen Elternorganisationen, die teils aus dem Eindruck heraus entstanden sind, Autismus Deutschland würde spezifische Interessen von „Therapeuten“ und Ärzten zu viel Gewicht beimessen und in denen keine Therapeuten vertreten sind, wie dies beispielsweise bei ABA-Eltern der Fall ist, besteht die Problematik, dass es sich dabei oft um Verbände handelt, die zum Ziel haben, einen oder mehrere bestimmte Therapieansätze zu verbreiten. Fakt ist somit, dass diese Eltern sehr wohl ein eigenes Interesse daran haben, dass die entsprechenden Therapien verbreitet und die Kosten dafür von zuständigen Stellen übernommen werden. Ferner sind diese Eltern von den Therapien oft auf eine Weise überzeugt, die dazu führt, dass so gut wie sämtliche differenzierte Betrachtung an diesen Eltern scheinbar abprallt, ohne überhaupt tatsächlich tiefergehend zur Kenntnis genommen zu werden. Kritik an den Therapien oder auch allgemein an den bestehenden Vorstellungen über Autisten wird in sehr vielen Fällen kaum nachvollzogen.
Wenn Autisten sich äussern, dann werden ihre Forderungen oftmals als irrational, unrealistisch und radikal verstanden. Es wird fälschlich teils angenommen, dass Autisten ihre Interessen auf Kosten von Nichtautisten durchsetzen wollten und es wird oftmals anscheinend nicht einmal versucht, die Lösungsansätze von Autisten tatsächlich zu verstehen. Manchmal wird auch die These vertreten, dass Autisten aufgrund ihrer angeblichen Kommunikationsbehinderung gar nicht in der Lage zur Selbstbestimmung wären und somit – aufgrund ihrer autistischen Veranlagung – nicht als Vertreter in eigener Sache ernst genommen werden müssten. Dass eigentlich bereits kleine Anpassungen ausreichen würden, um Autisten ein würdiges Leben zu ermöglichen und sich dadurch auch Therapien, Heime und Betreuungspersonal erübrigen würde, ohne, dass für Nichtautisten irgendwelche tatsächlichen Nachteile entstünden, wird offenbar nicht beachtet (vgl. Schwarzbuchkapitel zu Therapien). Von Autisten wird anscheinend angenommen, dass sie so „gestört“ seien, dass sie eigentlich allgemein nicht wissen, wovon sie reden und es scheint, vermutlich aufgrund der gravierenden Fehlinformation, für Viele undenkbar zu sein, dass eine win-win-Situation sowohl für Autisten als auch Nichtautisten möglich ist.
Dieses mehr oder weniger eklatante Unwissen von Angehörigen wird besonders im direkten Kontakt mit dieser Personengruppe deutlich. Ebenso deutlich wird auch, wie wenig sie bereit sind, sich auf die Lösungsansätze von Autisten einzulassen. In vielen Fällen wird die Forderung von Autisten, die jeweiligen Umgebungsbedingungen sollten für Autisten angepasst werden, um dem Autisten angemessene Möglichkeiten zu bieten, sich frei zu entfalten und sein Potential voll auszuschöpfen, mit absurden Beispielen ins Lächerliche gezogen. So ist es nicht Ziel der ESH, beispielsweise den Sommer „abzuschaffen“, nur weil ihn ein autistisches Kind scheinbar nicht mag. Die ESH fordert ebensowenig, dass den autistischen Kindern jeder Wunsch von den Lippen abgelesen werden und erfüllt werden muss. Was die ESH fordert, ist „lediglich“, dass im konkreten Einzelfall geschaut wird, wo genau das Problem liegt und nach erfolgter, sorgfältiger Problemanalyse (die sich nicht nur auf eine oberflächliche „Problemanalyse“, wie im obigen Beispiel beschränkt und mehr darauf abzuzielen scheint, die Forderungen von Autisten ins Absurde zu übersteigern und dadurch auch lächerlich zu machen) genau dieses Problem zu beseitigen. Meist handelt es sich dabei, wie schon erwähnt, um Kleinigkeiten, die berücksichtigt werden müssen. So könnte das Kind, das scheinbar ein Problem mit dem Sommer hat, lediglich empfindlich auf Luftzug reagieren, der in sommerlicher Kleidung mit kurzen Ärmeln und Hosen deutlich stärker spürbar ist, als, wenn der ganze Körper durch Kleidung bedeckt wird. Viele solche Kleinigkeiten kumulieren sich für Autisten zu einem Wust an Überlastungen, die es ihnen verunmöglichen diese in ihrer Masse sinnvoll zu kompensieren, weswegen sie dadurch auch „unfähig“ wirken, weil sie ständig mit Kompensation beschäftigt sind. Können diese Kleinigkeiten jedoch weitgehend beseitigt werden – was in den allermeisten Fällen durchaus machbar ist, ohne sich in Umkosten zu stürzen oder der Familie immense Belastungen zuzumuten – eher im Gegenteil), wird das Verhältnis zum Autisten auf einmal viel entspannter, der Autist ist in der Lage selbständig zu lernen und wirkt auf einmal nicht mehr so „schwer betroffen“, da Überlastungsreaktionen mehr und mehr ausbleiben. Weiter hat dies zur Folge, dass der Autist auf einmal durchaus in der Lage ist, mit tatsächlich unabänderlichen Umständen (wie z.B. dem Wetter) umzugehen.
Die häufigsten Falschannahmen über Autistenorganisationen
Erstaunlich oft gehen Eltern, wenn sie mit Autisten in Kontakt treten davon aus, dass es sich bei den Autisten, die sich eigenständig in Organisationen sammeln und für sich selbst sprechen wollen, um „lediglich leicht betroffene Asperger“ handelt. Dies führt oftmals dazu, dass diesen vermeintlichen Aspergern unterstellt wird, sie wären nicht in der Lage sich – aufgrund ihrer fehlenden Theory of Mind – in die „schwer betroffenen“ Kinder der Ratsuchenden Eltern hineinzuversetzen und kompetenten Rat zu erteilen. Diese Annahme ist jedoch schlichtweg falsch. Die ESH und auch viele andere Autistenorganisationen bestehen keineswegs lediglich aus Aspergern. Im Gegenteil: Viele der in der ESH tätigen Autisten wären als Kinder ebenfalls als „schwer betroffen“ eingestuft worden. Der einzige Unterschied ist, dass diese Autisten – im Gegensatz zu vielen heutigen autistischen Kindern – zu Hause die Gelegenheit bekamen, sich frei zu entfalten und ihr Potential auszuschöpfen.
Diesen Autisten die Fähigkeit, sich in andere – ebenso vermeintlich schwer betroffene – Autisten hineinzuversetzen, abzusprechen und davon auszugehen, diese erwachsenen Autisten hätten keine Ahnung wovon sie reden, zeugt von einer Arroganz, die ihresgleichen kaum kennt.
Und selbst wenn es sich bei einigen dieser Autisten tatsächlich „lediglich“ um Asperger handeln sollte, bleibt weiterhin die Frage, woher sich diese Eltern anmassen besser zu wissen, was ihre autistischen Kinder brauchen, als andere Autisten – wozu Asperger eindeutig auch gezählt werden.
Autisten in Elternorganisationen: Mitgliedschaft fürs Image des Vereins
Autisten, sofern ihre Mitgliedschaft in Elternvereinen satzungsbedingt überhaupt zulässig ist, wird oftmals die sinnvolle Teilhabe in diesen Organisationen systematisch z.B. durch Verweigerung schriftlicher Kommunikation verwehrt und in Verbänden, in denen Autisten trotz dieser widrigen Umstände aktiv sind, stellen die Autisten lediglich eine kleine Minderheit und haben aufgrund der Überzahl der Nichtautisten kaum eine Chance, ihre eigenen Interessen auch tatsächlich gleichberechtigt einzubringen, zu entwickeln und durchzusetzen. In der Regel ist davon auszugehen, dass diese beteiligten Autisten lediglich gewissermaßen dazu dienen, um in der Öffentlichkeit eine grössere Legitimität des Verbands zu erreichen – mit der Begründung, dass angeblich auch diejenigen Mitreden dürften, um die es eigentlich geht. Dass dieses Mitreden i.d.R. lediglich symbolischen Gehalt hat und keineswegs gleichberechtigt und ohne Diskriminierungen abläuft, scheint allgemein nicht berücksichtigt zu werden.
Historisch gesehen kommt diesen Elternverbänden durchaus ein relativer Verdienst zu. Diese Autismusverbände entstanden nämlich überwiegend in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Reaktion auf die These der Kühlschrankmutter von Bettelheim (vgl. soziohistorische Einordnung). Ziel war es, die Interessen der autistischen Kinder, die damals noch weitaus schlechter gewahrt wurden als heute, zu vertreten. Diese Elternverbände gewannen zunehmend an Einfluss, arbeiteten von Anfang an eng mit der Wissenschaft zusammen (Hochmann 2009) und prägten teilweise in erheblichem Maße deren gedankliche Herangehensweise an das Thema Autismus. Es bestand der Anspruch, autistischen Kindern, die – aus nichtautistischer Sicht – „wirkungsvollste“ „Therapie“ und „Pflege“ in Heimen zukommen zu lassen und diesen Kindern zu „ermöglichen“, möglichst nichtautistisch zu wirken und sie womöglich sogar von ihrem Autismus zu heilen. Eindeutig als Verdienst der Eltern muss in diesem Zusammenhang hervorgehoben werden, dass diese Heime früher noch weit weniger auf autistische Bedürfnisse ausgerichtet waren als heute. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die heutigen Verhältnisse in Heimen keineswegs auch nur ansatzweise ideal sind – u.a. deswegen werden Heime heutzutage auch als Auslaufmodelle betrachtet. Bei diesen damaligen und auch heute zeitgenössischen „Therapiemodellen“ wird nicht berücksichtigt, dass Autismus als gesundes Persönlichkeitsmerkmal keiner „Therapie“ bedarf und demzufolge auch eine Heilung schlichtweg unnötig und auch unmöglich ist. Als „Therapieerfolge“ werden meist oberflächlich beobachtbare Veränderungen verbucht; die möglichen, weitaus grösseren psychischen Schäden, die dabei am zu therapierenden Kind entstehen, finden dabei in den meisten Fällen keine Beachtung (vgl. Schwarzbuchkapitel zu Therapien).
Doch die Situation hat sich verändert. Im Zuge der Behindertenrechtsbewegung begannen Behinderte zunehmend ihre Rechte einzufordern und dagegen anzukämpfen, als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden. Als Beginn der Behindertenbewegung gilt meist der Zeitpunkt, als Ed Roberts 1962 als erster mehrfach Behinderter in den USA eine Hochschule besuchen durfte (http://www.disabilityculture.org/course/article3.htm).
Seither hat sich vieles getan. Die Rechte Behinderter sind mittlerweile in vielen westlichen Verfassungen verankert, in vielen Bereichen ist eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für viele Behinderte kein Traum mehr und der Behinderungsbegriff hat sich im Zuge der fortschreitenden wissenschaftlichen Analyse dieses Phänomens gewandelt. Behinderung nämlich wird nicht mehr als feststehende Personeneigenschaft aufgefasst, sondern als gesellschaftliches, historisches und soziales Konstrukt, was bedeutet, dass derjenige behindert ist – dieser neuen Definition zufolge bedeutet dies, dass er durch die vorherrschenden z.B. gesellschaftlichen Bedingungen behindert wird – der aufgrund statistisch unüblicher Eigenschaften nicht ohne Weiteres am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Behinderung ist somit nichts Feststehendes, sondern ein Phänomen, das immer erst im Kontakt mit der Umwelt entsteht (vgl. Schwarzbuchkapitel zur Behinderungsdefinition).
Behinderte haben bewiesen, dass sie für sich selbst sprechen können, dass sie keine Hilfsbedürftigen sind, die auf die wohlwollende Hilfe ihrer Mitmenschen angewiesen sind und das Wichtigste: Behinderte haben bewiesen, dass sie selbst am Besten wissen, was gut für sie ist. Dies gilt auch für Autisten.
Elternorganisationen scheinen dies insbesondere im Autismusbereich noch nicht eingesehen zu haben. Autisten haben sich mittlerweile weltweit in unterschiedlichen Gruppierungen organisiert und versuchen immer wieder, darauf aufmerksam zu machen, dass nicht ohne sie über grundlegende Dinge entschieden werden soll, da diese Entscheidungen oftmals zu Lasten der Autisten grundlegend falsch sind – häufig bleiben diese Bemühungen ohne Erfolg – auch aufgrund des massgeblich durch Elternorganisationen geprägten Bildes von Autismus und der Tatsache, dass Elternorganisationen den Anspruch erheben, die „wahre Interessenvertretung“ darzustellen.
Dieser oben angeschnittene Zustand wird massgeblich von Elternorganisationen gefördert und aufrecht erhalten. Sie geben weiterhin öffentlich an, die Interessenvertretung der Autisten darzustellen und stellen sich als erste Anlaufstelle für Eltern von autistischen Kindern dar.
Teils wird den Eltern von „Therapeuten“ und Ärzten sogar direkt bei der Diagnosenstellung des Kindes nahegelegt, einem solchen Elternverein beizutreten, um die Interessen der Kinder optimal wahren zu können. Dass es auch eine von Autisten geführte eigenständige Interessenvertretung gibt, in der die Eltern von erwachsenen Autisten beraten werden, die veranlagungsbedingt ungleich besser wissen, wie für Autisten optimale Bedingungen geschaffen werden können, wird i.d.R. nicht erwähnt.
Diese einseitige Information hat unterschiedlichste Konsequenzen – grösstenteils solche, die direkte und oftmals sehr negative Effekte auf die Lebensqualität von Autisten haben. Dies kann sowohl indirekt geschehen, z.B. durch das Vermitteln eines Zerrbildes von Autismus in der Öffentlichkeit, was beispielsweise zur Bereitstellung von öffentlichen Geldern für möglicherweise eugenisch motivierte Forschung im Bereich der Identifikation potentieller Autismusgene führen kann. Jedoch ist es so, dass v.a. in den USA grossen Autismusorganisationen, die die Rechte und die Würde von Autisten regelrecht mit Füssen treten, allen voran Autism Speaks, selber an solchen Forschungsprojekten beteiligt sind und somit auch ein finanzielles Interesse an der Förderung derselben haben. Für die heute lebenden Autisten resultieren jedoch auch sehr direkte Nachteile aus dieser einseitigen und verzerrten Darstellung. Dies fängt bereits im Kleinkindalter durch das Stigma einer Diagnose an, ohne die weitere Diskriminierungen in diesem Ausmass so nicht möglich wären (vgl. Chancen und Risiken einer frühen Diagnostik), geht dann weiter z.B. über die Beschulung in einer „Fördereinrichtung“, in der das Kind unabhängig von seinen eigentlichen Begabungen keine angemessene Schulbildung erhält oder das Unterbringen in einer Regelschule, ohne tatsächlich eine barrierefreie Teilhabe am Unterricht zu gewährleisten (vgl. Diskriminierung im Bildungswesen). Nach einem oftmals nichteinmal ansatzweise den tatsächlichen Fähigkeiten entsprechenden Schulabschluss werden viele, vermeintlich schwer betroffene Autisten in Behindertenwerkstätten und Heimen verwahrt, in denen abermals nicht auf ihre Bedürfnisse angemessen eingegangen wird. Während dieser ganzen Zeit finden oftmals noch Therapien statt, die den Autisten noch weiter aus der Bahn werfen und ihm auch ein defizitäres Bild von sich selbst vermitteln. Aber auch für Autisten, die nach Schulabschluss in den ersten Arbeitsmarkt einsteigen und selbständig leben können, gibt es zahlreiche Diskriminierungen, die sich auf nahezu sämtliche Lebensbereiche beziehen können: Erwerbsleben, Gesundheitswesen, Versicherungen und letztlich auch diverse Diskriminierungen im privaten Bereich bei Bekanntwerden der Diagnose sind nur einige Beispiele. All dies müsste nicht sein, wenn auch öffentlich auf Autisten gehört würde und diese endlich die Chance bekämen, zu zeigen, dass sie eigentlich gar nicht gestört sind und sich sehr wohl auch ohne Bevormundung durch Eltern und Therapeuten vertreten können.
Siehe auch den Text zu Autism Speaks: http://auties.net/autism_speaks